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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

der Schlacht bei Leipzig, am 19. Oktober auf dem Turnplatz in der Hasenhaide bei Berlin ein großes Schauturnen ab. „Alle Stände waren unter den Zuschauern vertreten; aus sechs benachbarten Städten waren Abgesandte zugegen. Auf dem Platze selbst hielten sich der Kronprinz (späterer König Friedrich Wilhelm IV.) und viele Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses und andere hervorragende Persönlichkeiten auf. Rings um den Turnplatz stand das übrige Publikum in gedrängten Reihen, auch die benachbarten Bäume waren besetzt. Man schätzte die Menge auf zehntausend.“ Am 18. Oktober 1818 feierte Jahn das letzte Schauturnen in der Hasenhaide; im folgenden Jahre saß er in Haft, der Turnplatz war geschlossen!

Eine neue Zeit brach für das deutsche Turnen erst wieder an, nachdem durch die bekannte Kabinetsordre Friedrich Wilhelm’s IV. vom 6. Juni 1842 in Prenßen der Bann von dem Turnen genommen worden war. Es war dies in gewissem Sinne erlösend auch für das Turnen in den anderen deutschen Staaten, selbst in denen, in welchen dasselbe niemals verboten gewesen.

Es bildeten sich Turnvereine und wurden auch, besonders in Schwaben, Turnfeste gefeiert, es ward 1846 in Dresden der erste sächsische Turntag abgehalten. Der eigentliche Aufschwung des Vereinsturnlebens aber ist für alle Zeiten mit dem ersten „allgemeinen deutschen Turn- und Jugendfeste“ verknüpft, das, besonders durch Theodor Georgii zu Eßlingen und Karl Kallenberg zu Stuttgart angeregt, von etwa 1000 Turnern vom 16. bis 19. Juni 1860 in Koburg gefeiert wurde.

Die unter Georgii’s Vorsitze abgehaltene Turnerversammlung führte zu keinem besonderen Resultate, in verständiger Weise widerstand man aber dem Antrage auf Gründung eines deutschen Turnerbundes. Von der Politik hielt man seit 1860 das deutsche Turnen fern – sehr zu seinem Segen und fröhlichen Gedeihen!

Das fünfzigjährige Jubelfest der Begründung des Turnens durch Jahn (1811) führte die Turner im folgenden Jahre nach Berlin. Es wurde hier vom 10. bis 12. August ein Fest gefeiert, von dem der Berichterstatter der „National-Zeitung“ (Lothar Bucher) äußerte: „Wir haben in den Hauptstädten Europas viele Feste gesehen, nie ein ähnliches; nie haben wir von einem ähnlichen in diesen Zeiten gehört oder gelesen; nie, wir schreiben die Worte mit Bedacht, nie ist ein solches Fest gefeiert worden, seit Griechenland unterging. Nie seitdem sind diese materiellen Hilfsmittel und diese günstigen Momente vereinigt gewesen. Es war das Fest einer großen Stadt, das Fest der Bürgerschaft, die ihre Behörde entsandt, der Regierung, die durch den Minister des Innern vertreten war, der Einwohnerschaft, die, ein lebendiger Rahmen, das Ganze umgab; das Fest einer Bevölkerung, die sich selbst zu regieren, selbst Ordnung zu halten weiß, ein Fest froher, guter, strebender, sinniger Menschen, ein Fest körperlicher und geistiger Vervollkommnung, ein Fest der Humanität; ein Fest der Verbrüderung von mannigfach gearteten Stämmen, ein Fest des deutschen Volkes; ein Fest, das in demselben Augenblicke rings um die Erde gefeiert ward, wo Deutsche bei einander wohnen.“

So gewaltig war der Eindruck dieses Festes auf alle Theilnehmenden. Allerdings erhielt dasselbe eine besondere Weihe durch die feierliche Grundsteinlegung für ein Denkmal Jahn’s in der Hasenhaide. Das Turnen auf dem Festturnplatze zu Moabit leitete der vor zwei Jahren verstorbene, allen seinen Schülern, zu denen auch ich mich mit Stolz rechne, unvergeßliche H. O. Kluge. In Berlin tagten die Turner unter Dr. Eduard Angerstein’s Vorsitz. Wieder wurde der Antrag auf Gründung eines deutschen Turnerbundes abgelehnt; dagegen wählte man als Vertreter der deutschen Turnerschaft fünf Männer (Theodor Georgii, Dr. Götz, Dr. Eduard Angerstein, Dr. J. C. Lion aus Bremerhaven – jetzigen Direktor des städtischen Schulturnens in Leipzig – und Dr. Konrad Friedländer aus Elbing – jetzt Realschuldirektor zu Hamburg) mit dem Auftrage, sich auf 15 zu ergänzen.

Einen ungeahnten Aufschwung nahm nun das Vereinsturnen in jener Zeit. Die 224 Turnvereine des Jahres 1860 waren 1861 auf 506 gestiegen. 1862 gab es bereits 1279 Vereine mit 134507 Angehörigen in dem Alter über 14 Jahre, und die Zahl derselben ist so bis zum Jahre 1884 im Verbande der 1868 gegründeten „Deutschen Turnerschaft“ auf 2655 Vereine mit 243677 Angehörigen gestiegen!

Das Gedenkjahr der Schlacht bei Leipzig führte vom 2. bis 5. August 1863 die Turner zum dritten allgemeinen deutschen Turnfeste nach Leipzig. Ueber 20000 Theilnehmer zählte dieses Fest, wohl das gewaltigste, das in neuerer Zeit in Deutschland gefeiert worden ist. Unter Dr. J. C. Lion’s Leitung führten etwa 7000 Turner Freiübungen aus!

Damals, 1863, gingen die Wogen der Begeisterung für das Turnen wohl am höchsten. In den folgenden Jahren, besonders im Kriegsjahre 1866, blieb der Rückschlag nicht aus. Das 1866 für Nürnberg geplante vierte Turnfest gelangte nicht zur Ausführung.

Im Jahre 1870, beim Ausbruche des französischen Krieges, fanden sich die deutschen Turner zusammen in der allgemeinen Begeisterung für den Kampf gegen den Erbfeind des deutschen Volkes. Leider sind die statistischen Erhebungen über die Betheiligung der Vereinsturner an dem Kriege nicht ganz vollständig. Von 74595 Tnrnern aus 1038 Vereinen waren 14715 einberufen; 11060 standen im Felde, von denen 589 das eiserne Kreuz erhielten, 1159 verwundet wurden, 793 im Kampfe fielen oder in Folge von Verwundung oder an Krankheit starben. Außerdem waren 1010 Mann als freiwillige Krankenpfleger hinausgezogen und erwarben sich Lob und Anerkennung wegen ihrer unermüdlichen und aufopfernden Bemühungen um die Verwundeten und Erkrankten. –

Erst im Jahre 1872, vom 3. bis 6. August, wurde wieder ein Turnfest, das vierte allgemeine deutsche, zu Bonn abgehalten, That auch das ungünstige Wetter diesem Feste großen Abbruch, so gänzlich „ins Wasser gefallen“ war es doch nicht. Es ist vielmehr dieses Fest nach meinem Dafürhalten das bedeutsamste das bis dahin gefeiert worden war, und wohl hätte man Jahn und Arndt gönnen mögen, dasselbe noch erlebt zu haben. Was beide Männer so heiß erstrebt, wofür sie gekämpft und gelitten, – das war jetzt erfüllt! Jahn war es in den zwanziger Jahren als Verbrechen angerechnet worden, daß er die „höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands aufgebracht“ habe; er war Derjenige, welcher bereits 1809 den Ausspruch that: „Deutschland, wenn es einig mit sich, als deutsches Gemeinwesen, seine ungeheuren, nie gebrauchten Kräfte entwickelt, kann einst der Begründer des ewigen Friedens in Europa, der Schutzengel der Menschheit sein.“

Im Jahre 1813, unter dem unmittelbaren Eindrucke des Riesenkampfes, verlangte er eine einheitliche Verfassung des gesammten Deutschlands und rief aus: „Wer die lang Getrennten einte, Sei als König uns gegrüßt.“ 1815 schrieb er in das Stammbuch der Wartburg: „Deutschland braucht einen Krieg auf eigene Faust, um sich in seinem Vermögen zu fühlen. Es braucht eine Fehde mit dem Franzosenthum, um sich in ganzer Fülle seiner Volksthümlichkeit zu entfalten. Diese Zeit wird nicht ausbleiben; denn ehe nicht ein Land die Wehen kriegt, kann kein Volk geboren werden.“

Immer wieder kam Jahn auf diesen Gedanken zurück. 1828 schrieb er: „Deutschlands Wehrkraft ist sehr groß, wenn alle seine Marken sammt und sonders in einer Landwehr begriffen sind und alle zugleich immerdar ihren Zuzug zum Heerbanner stellen. Deutschland hat noch in keinem Kriege seine Riesenkräfte entwickelt. Eine Kleinigkeit ist genug gewesen, bei rechtem Gebrauche unser Land zu schirmen. Ländergierige Nachbarn, zwingherrliche Störenfriede haben zu unserem Glücke von Zeit zu Zeit den faulen Friedenspfühl entrückt. Sicher und gewiß werden wir, durch des Auslandes erneuerte Fehden gestärkt und gereinigt, in weiser Bundesverfassung einen Hort gewinnen, dann die Mittlerschaft allmählich erwerben, uns durch innigen Verein die leibliche, sittliche und geistige Wehrschaft bewahren.“

1833 verspricht Jahn den Nachbarn „jenseit des Wasgaues und der Argonnen“ treu-freundliche Nachbarschaft. „Sollte aber der Geist der Eroberung und die Sucht zur Ueberziehung wieder aufleben, die Franzosen das linke Rheinufer begehren, so sei unser Feldgeschrei: Deutsch-Lothringen und Elsaß!“

Der eigentliche Vorfechter Deutschlands war für Jahn schon 1809 Preußen und das Geschlecht der Hohenzollern. „Das wohlgerüstete Schiff des geeinten Deutschlands aber,“ meinte Jahn, „muß einen Steurer haben, der, vertraut mit der Fahrt, alle Klippen, Riffe, Bänke und Strudel kennt, jeglicher Gefahr zu begegnen weiß und alle Mittel zur Abwendung nützt.“

Die Hoffnung auf Deutschlands Einigung führte Jahn 1848 in die deutsche National-Versammlung nach Frankfurt. Seine letzte Schrift, die „Schwanenrede“, geschrieben 1848, endet mit den bekannten Worten: „Deutschlands Einheit war der Traum

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_443.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)