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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

„Sie schlafen, sie können ruhig schlafen, das Kind, meine Schwester, in Gott ihren Kinderschlaf, dieser Mensch ohne Gott in seiner Selbstsicherheit. Meinen Wunsch einer friedlichen Nacht hat mir der als unnöthig mit Spotten zurückgegeben; ich habe es wohl gemerkt, daß er in seiner Welterfahrung wohl wußte, wie ich gleich einem Gespenst in meinen Nächten umgehe. Das Kind in seiner Unerfahrenheit und der kluge Mann in seiner Gesundheit und Kraft wissen von keinem Zweifel: ich aber zerringe mir die Hände in Bangen und bin mir ohne Deine Gnade, Herr, Herr, selbst eine Lüge bis in das Mark meiner Gebeine, bis in die Tiefen meiner Seele. Herr, Herr, willst du mich nicht still machen in diesem Leben wie die Unschuldigen und die, welche nichts von dir wissen wollen, o so laß es kurz sein in deiner Gnade, dieses Leben auf dieser Erde, auf der ich Keinem begegne, der mir nicht zum Zorn und Ueberdruß wird, Keinem, der mir nicht ein Vorwurf ist, wenn ich nicht in sündiger Ueberhebung einen Triumph daraus machen kann. O Herr mein Gott, tödte dieses bittere, wilde Herz in mir, zu dem Niemand spricht, vor dem Niemand weint und lacht, ohne daß der Ton erlischt wie ein glühend Eisen in einem Meer von Galle.“

Er erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl, aber als er aufrecht stand, jetzt in seiner ganzen stattlichen Höhe, war jede Spur von Schwäche an ihm verschwunden. Er lachte nicht mehr, aber er lächelte, indem er murmelte:

„Und so wärest du ja wohl in der rechten Stimmung, diesen, deinen jetzigen Amtsweg zu gehen, Prudens Hahnemeyer, um mit jenem rathlosen Mann in der Wildniß Vernunft zu reden an dem Leichnam seines Weibes, an der Leiche des Weibes?!“ – – –

Es war bald gegen Mitternacht, als er das Haus verließ. Er hatte, wie schon gesagt worden ist, die Thür nicht zu [v]erschließen. Die stand freundlichen und feindlichen Mächten offen bei Tage und bei Nacht. Aber ehe er jetzt in diese Nacht wieder hinaustrat, horchte er noch einen Augenblick an den Thüren seines Jugendfreundes und seiner Schwester und sagte, als er von drinnen keinen Laut vernahm, neidisch:

„Ja, sie schlafen ruhig.“

Er ging jetzt barhäuptig. Er, der seinem heutigen Gast vorhin in der wärmen Abendstunde von körperlichem Frösteln gesprochen hatte, schien jetzt nichts von der Kälte der Gebirgsnacht, von dem scharfen Wehen über die Hochebene her zu verspüren. So schritt er durch den Vorgarten, in welchem so viele Kinder seiner Vorgänger im Amte seit wohl mehr denn zweihundert Jahren ihre Spiele getrieben hatten, so schritt er über die versunkenen Gräber dieser Vorgänger zwischen seiner Gartenhecke und der Kirche, begleitet von dem Rauschen in den Wipfeln einher.

An der Ecke der Kirche trieb ihm der Wind die Haare in das Gesicht, und als er sie zurückstrich, sah er zum ersten Mal auf zu dem jagenden Nachtgewölk und den Sternen, die zwischendurch flimmerten. Da er aber das wenige Gefühl für Naturschönheit, das er je besessen haben mochte, ohne viele Mühe in sich ertödtet hatte, sagte ihm das nichts. Er fühlte den Wind in seinem Rücken nur als eine andere treibende Kraft, wovon er so wenig wußte, wie daß er jetzt wieder dem Morgen zuschreite auf dem nämlichen Wege, auf dem seiner Schwester und dem Jugendgenossen vor wenigen Stunden die Abendsonne ins Gesicht geleuchtet hatte.

Das Rauschen in den Laubbäumen war nun in den hohen Tannen an dem Rande der Vierlingswiese zu einem singenden Zischen geworden, doch auf der Wiese selbst hätte dem Wanderer kaum ein wirklicher Sturm das Haar mehr bewegt. Die lag zu nahe im Schutze des Forstes, und der Wind sang da nur in dem obersten Gezweige.

Aus dem offenen Thürloch der Fieberköthe fiel noch Licht- oder besser Feuerschein in die Nacht hinein, wie der Pfarrer es vorausgesetzt hatte. Der Schauder, den jeder andere weichere Mensch im Daraufzuschreiten wohl bis ins Tiefste verspürt haben würde, zeigte sich bei diesem jetzt in seine Pflicht gewappneten Mann nur in einer kaum bemerkbaren abweisenden Kopf- und Handbewegung. Im nächsten Augenblick stand er in der Hütte und fand sie alle so tief im Schlaf darin, daß der der Lebendigen sich in nichts von dem der Todten unterschied.

Die Todte suchte dieser nächtliche Gast und Trost- und Rathbringer zuerst beim Flackern des auf dem roh aus Bergsteinen zusammengeschichteten Herde in sich zusammensinkenden Feuers. Da die Luft von allen Seiten fast ungehindert Zutritt in die Höhle hatte, war der Dunst darin lange nicht so arg wie in den Krankenzimmern und Sterbesälen besser situirter Mitbrüder und Mitschwestern auf dieser Erde. Es füllte sogar ein Wohlgeruch aus dem Walde und von der Wiese den Raum, ein Duft des Lebens, der jeden Weihrauchduft um Sarg und Katafalk zu einem Spott machte. Es hinderte in dieser Beziehung den Pfarrer, wie er sich jetzt über die starre, lang hingestreckte Gestalt der gestorbenen Fee beugte, nichts am freiesten Athemholen, und er fuhr auch nicht auf und um, als nun von der anderen Seite der Hütte her ein heiseres Lachen erscholl und der Räkel rief:

„Ho, ein Nachtvogel! wie kommen wir denn jetzt schon zu dieser Ehre? Hast das Aas auch gewittert und kommst noch gar in der Düsterniß, weil Du Fänge und Schnabel nicht bändigen kannst bis zum nächsten Morgen? Dachtest wohl, der Fuchs könnte Dir schon bei nächtlicher Weile mit seiner Füchsin durchgehen? Konnten aber ganz ruhig sein, Herr Pastor; hat die Familie ihr Elend am hellen Tage gehabt, will sie auch ihren Spaß am hellen lichten Tage haben. Da ist morgen bei Sonnenschein noch Zeit für Alles! Sakerment, oder drückt Dich Deine Redegabe so, daß Du ihr jetzt nur Luft machen willst, weil Du weißt, daß Du morgen das Nachsehen mit ihr haben könntest? Sakerment, wenn mich die Kinder nicht dauerten, hätte ich wirklich auch Lust, Dich gleich auf der Stelle zum Predigen, Heulen und Zähneklappern zu bringen, Du heuchlerische Kircheneule. Und wäre Deine Schwester nicht, ich drückte Dich mit dem Gesicht auf den kalten Leib da, daß Du die Pestilenz einsögest wie ein Schwamm. Na, nun heraus damit, mach’s kurz mit Deinen Fragen! Was wünschen der Herr Pastor eigentlich von dem Gaudieb, dem Volkmar Fuchs? Hast ja Deine Spitzbuben von Bauern die ganze Woche um Dich zum Salbadern mit ihnen, und jeden Sonntag das große Wort allein vor allen ihren alten und jungen Weibern und Schulkrabben. Was suchst Du also noch außerhalb von Deinem hochheiligen Pferch bei dem Zuchthäusler, dem Wilddieb, dem Fuchs und seinen Jungen? Meinst wohl gar, der Räkel fürchte sich vor der Mitternacht, und meinst, Du setzest Deinen Amts- und Kirchenpolizeiwillen in der Spukzeit leichter durch? Ja, komme mir nur!“

Der Mann hatte sich von seiner Streu im Sprunge aufgehoben. Auch er war ein hagerer starkknochiger Mensch von vierzig Jahren, der verrufenste Wilddieb der Gegend, der beste Schütz im Gebirge – ein Ritter des eisernen Kreuzes vom Jahre Achtzehnhundertsiebzig, der Ehemann der Todten und der Vater der zwei Kinder. Volkmar Fuchs, seines Familiennamens wegen und aus anderem Grunde von der Bekanntschaft aus der Jägersprache der Räkel genannt, wie seine verstorbene Frau die Fee. Als er jetzt dem Pfarrer die Hand auf die Schulter legte und so neben ihm stand, fand es sich, daß sie Beide von ziemlich gleicher Leibeshöhe, und daß sie sich auch mit dem Blick ihrer Augen gewachsen waren.

„Ich habe freilich gewartet, bis Niemand im Dorf mehr wachte, als wir Zwei, Volkmar, um Vernunft mit Dir zu reden,“ sagte der Pastor jetzt völlig ruhig.

„Zählt mich der Herr Pastor Hahnemeyer wirklich noch mit zu seinem Dorfe?“ lachte der Räkel.

„Es ist ein Anderer, der Dich und die Deinigen mitgezählt hat allewege und allezeit. In seinem Namen habe ich Dich aufgesucht an dem Leichnam Deines Weibes, armer Mensch –“

„Weil Euch die faule Seuche auf die Nägel brennt und Ihr in Ungelegenheiten kommt drunten im freien Lande vor den Behörden, und in die Zeitung dazu, wenn der Räkel sich jetzt nicht von Euch um Euren kleinen Finger wickeln läßt, sondern einen öffentlichen Lärm aus seinem Gift macht! Das lohnte sich natürlich, uns in der Vergessenheit mit Deiner Barmherzigkeit des Herrgotts aufzustören. Nun, meinetwegen – Sie sehen es ja, Herr Pastor Ehrwürden, die Krabben wachen auch, und die Gemeinde in der Fieberköthe haben Sie also vollzählig beisammen; abgerechnet die todte Seele da, wenn Sie die nicht auch noch zu uns zählen; – also, meinetwegen, reden Sie mal Vernunft zu uns. Wirf ein paar Tannensplitter auf den Herd, Junge, daß wir mehr Licht in unsere Dummheit und für den Herrn Pastor kriegen und es besser einsehen, wie er uns besser herumbringt als Fräulein Phöbe in unserm Recht und Willen mit Mutter.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_466.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)