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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

hatte Niemandes Hand wieder berührt. Jedes Frühjahr und jeden Herbst fuhr zwar Sophie pflichtschuldigst heraus, um die Möbel zu klopfen und die Zimmer zu lüften, von den Andern aber Niemand. Frau Baumhagen hatte diese idyllische Marotte ihres Gatten vom ersten Moment an für eine Verrücktheit erklärt, und Jenny nannte das Landhaus die Grillenburg. Sie war einmal hier gewesen und nie wieder, „man verkam ja vor langer Weile zwischen den stummen Bäumen!“

Endlich gab die Glocke einen schwachen Laut. Daraufhin erhob sich ein wüthendes Hundegebell im Nebenhause, und eine Frau von etlichen fünfzig Jahren in wattirtem Unterrocke und rothgeblümter Nachtjacke kam aus dem Gebäude. Starr wie ein Wachsbild schaute sie die jnnge Dame an, dann schlug sie die Hände zusammen und rannte auf klappernden Pantoffeln ins Haus zurück, um sofort mit einem Schlüsselbund wiederzukehren.

„I du Barmherziger!“ sagte sie athemlos beim Aufschließen, „das hätte ich mir nicht träumen lassen – die Frau Linden! Haben einen Morgenspaziergang gemacht, gnädige Frau? Dachte schon immer, ob Sie nicht einmal herkommen mit dem Herrn Gemahl – nun sehen Sie nur – das freut mich aber!“ Und sie lief den Weg voran und schloß die Thür der Villa auf.

„Alles in Ordnung, Frau Linden; mein Maun hat immer darauf gehalten. ‚Pass’ auf,‘ sagte er, ,eines Tages kommt doch einmal Jemand von den Herrschaften.‘“ Und wieder lief die vierschrötige Person die Treppen vorauf und öffnete ein Zimmer. „Es ist Alles beim Alten – da steht Ihr Bettchen, und da sind auch noch die Bücher, nur die Tannen und Buchen vor den Fenstern sind gewachsen.“

Die junge Frau nickte. „Bringen Sie mir ein wenig heiße Milch,“ sagte sie fröstelnd, „aber recht bald, Frau Rode.“

„Gleich! Gleich!“ Und die Alte hastete fort; Trudchen hörte das Klappern ihrer Pantoffeln auf der Treppe verhallen und die Hausthür zuschlagen. Nun war sie allein.

Es herrschte eine kühle grüne Dämmerung in dem Zimmer, die Buchenzweige drängten sich bis dicht an die Scheiben. Damals war es noch nicht so dunkel hier innen, als sie zuletzt einen Sommer in „Waldruhe“ verbrachte. Sonst – die Frau hatte Recht – sonst war es noch ebenso, der Spiegel im Rahmen von Pflaumenholz zeigte noch immer die bogenspannenden Centauren in dem gelb und schwarzen Felde der oberen Verzierung; über dem kleinen altmodischen Schreibtische hing noch immer der Stahlstich „Paul und Virginie“ unter dem Palmenblatte; die grünen Vorhänge des Himmelbettes waren nicht um die leiseste Schattirung verblichen, das Sofa war noch genau so unbequem, der Tisch davor mit der nämlichen Plüschdecke. Hier hatte sie so manche traute Stunde verlebt, in süßer Lenznacht am offenen Fenster und an stürmischen Herbstabenden, wenn die Wolken am Himmel jagten, der Sturm sich über die Berge stürzte gegen das einsame Haus; der Regen prasselte und der Wald so unheimlich zu rauschen begann. – Dann waren die Vorhänge zugezogen, im Kachelofen brannte das Feuer, und drüben im gemüthlichen Wohnzimmer wußte sie den Papa bei einer L’hombrepartie. Sie machte die Wirthin hier in „Waldruhe“, sie war so stolz darauf, in die Küche zu gehen mit dem weißen Schürzchen, in den Keller zu steigen, und die alten Herren ließen sie dann bei Tische ob des wohlgelungenen Wildbratens hoch leben. Die alten lieben Freunde – da war jetzt nur noch Onkel Heinrich.

Dort auf jenes Lager hatten sie dann auch das ohnmächtige Mädchen getragen, wie sie es an Papas Todtenbette gefunden.

Es schüttelte die junge Frau plötzlich wie im Fieber. „Er starb an seiner unglücklichen Ehe,“ hatte sie Onkel Heinrich einmal sagen gehört – leise, aber sie hatte es doch verstanden.

Mama liebte ihn nicht, Mama hatte einen Andern gern gehabt, und das hatte sie ihm einst gesagt, als es einer Kleinigkeit wegen zu Meinungsverschiedenheiten kam. „Mit dem Andern wäre ich glücklicher geworden, ich hatte ihn wenigstens lieb, aber – es war keine Versorgung.“

Trudchen begriff jetzt Alles; sie hatte Papas Charakter, sie war stolz. O, diese düsteren Jahre, da sie mit wachsendem Verständniß erkannte, welcher Sonnenschein dem Hause mangelte! „Hätte ich die Kinder nicht,“ hatte er einst zornig gerufen, „es wäre längst ein Ende gemacht!“

O, Qual der Hölle, wenn zwei Menschen durch Gott und das Gesetz zusammengeschmiedet sind, die doch am liebsten eine Welt zwischen sich legten! – Unwürdig! unmoralisch –! Hatte er nicht recht gethan, der Papa, daß er freiwillig ging – ging für immer? Aber ach, wie schwer ist das Gehen, wenn man liebt, so liebt! – Wie denn? Liebe, Achtung gehören doch einmal zusammen – Einbildung, alles Einbildung!

Sie wurde plötzlich noch um einen Schein bleicher; sie dachte, wie Papa sie geliebt, und sie dachte an die kleine Wiege in der Rumpelkammer zu Hause. Gott sei Dank, es war nur ein Traum, ein Wunsch, ein Nichts – und doch – – O diese herzbeklemmende Angst!

Sie ging hinüber an das Bett, sie war so müde; sie schmiegte den Kopf in die Kissen, zog die Decke empor und schloß die Augen. Und dann standen ihr immer die Worte vor der Seele wie flammende Schrift, die Worte, die sie heute geschrieben, um sie auf seinen Schreibtisch zu legen. Und sie flüsterte: „Sei barmherzig, gieb mich frei! Suche mich nicht auf, laß mir den einzigen Platz, der mir noch gehört!“

Die Frau brachte die heiße Milch, und sie trank. Sie wolle schlafen, sagte sie dann, aber sie konnte nicht schlafen. Sie horchte immer wieder hinaus, sie meinte Pferdegetrappel zu hören und Wagenrollen. Ach, nur das nicht!

Und Stunde auf Stunde verrann, unbeweglich lag sie; sie hatte nicht mehr den Muth, sich aufzuraffen. Warum kann man nicht sterben, wenn man will? – Das Mittagläuten im Dorfe war eben verhallt, da kam doch ein Wagen, und bald darauf Schritte die Treppe herauf.

Gott sei Dank, er war es nicht! – Zur Thür aber steckte Onkel Heinrich sein bekümmertes Gesicht herein.

„Wahrhaftig,“ sagte er, „Du bist da! – Aber warum denn, Kind, warum denn?“

Sie hatte sich rasch aufgerichtet und stand nun vor dem kleinen Herrn. „Du bringst mir Antwort, Onkel?“

„Ja freilich! Ich wollte aber lieber sonst etwas thun! Wie kommt Ihr kratzbürstige Gesellschaft dazu, mich zum Träger Eurer liebenswürdigen Botschaften auszuersehen?“ Er warf sich ins Sofa, daß das kleine Möbel förmlich aufstöhnte. „Hast Du einen Kognak hier?“ fragte er, „mir ist’s gar nicht recht um den Magen.“

Sie schüttelte stumm den Kopf und sah ihn an aus ihren verdüsterten Augen.

„Ach so,“ machte Onkel Heinrich grämlich. „Nun, er läßt Dir sagen, wenn es Dir Spaß machte hier zu bleiben, so solltest Du Dich nicht geniren.“

Sie zuckte merklich zusammen.

„O, la la! Das ist der Sinn – so ungefähr,“ verbesserte er und wischte sich über die Stirn mit dem Taschentuch. „Linden sprach eigentlich wenig,“ fuhr der alte Herr fort, „er war nur von einem stillen Zorne ob Deiner Flucht; indeß, er nahm sich sehr zusammen. Er wolle Dich nicht hindern, meinte er; mit Gewalt schleppte er Dich nicht zurück in sein Haus. Er wird Dir Johanne zur Bedienung schicken und hofft sonst noch jeden Deiner Wünsche erfüllen zu können. Er werde sich schon einrichten und – Du habest den Irrthum hoffentlich bald eingesehen. Und,“ schloß Onkel Heinrich, „so weit wären wir; nun möchte ich von Dir wissen, was jetzt werden soll, wenn Du nämlich mit Deiner bekannten Charakterstärke nicht zum Einsehen geneigt bist?“

Sie blieb stumm.

„Uebrigens leugnet Franz in Bezug auf diesen Wolff – Alles! Und, höre, Trudchen, Du warst sonst immer ein recht vernünftiges Frauenzimmer, was ist Dir in den Sinn gekommen, daß Du diesem alten Esel, der überall als anrüchig bekannt ist, diesem Wolff mehr Glauben schenkst, als Deinem Manne?“

Trudchen griff hastig in die Tasche und faßte den Zettel – da war ja der Beweis. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihn hinüber reichen – aber nein, das konnte sie nicht, sie brachte die kleine zur Faust geballte Hand, die das unglückliche Papier umschloß, nicht hervor.

„Ihr solltet Euch da Beide ein wenig entgegen kommen, meine ich,“ sagte Onkel Heinrich nach einem Weilchen; „Ihr habt Euch einmal geheirathet und – au fond – was ist’s denn weiter, wenn er sich nach Deinen Verhältnissen erkundigt hat –?“

Er brach ab vor ihrem dunklen Blick. „Heut zu Tage ist es gar nicht so etwas Besonderes, wenn man –“ stotterte er weiter.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_470.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)