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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

bitte Sie, – nicht Aesthetik, nicht Litteratur, bildende Künste, Musik und Parlamentaria! Diese Blechmusik den ganzen Tag ist mir völlig Ersatz für das Alles. O Himmel, da haben wir Professor X, Ihren Ihnen weit überlegenen Herrn Kollegen, – den Verstimmtesten unserer Melomanen, Herrn von X0X, – unsern großen Romancier X0X0X, der seit gestern Morgen, wo ich ihm meines Freundes Charles Lamb’s Versuch über Geistesgesundheit des wirklichen Genius unter die Nase rieb, mit den schwärzesten Tintenabsichten um mich herum geht. Nicht zu vergessen unsern viel gesuchten Gesellschaftsmaler X0X0X0X, dessen Portrait meiner dänischen Dogge und meiner Sammtrobe mit mir als Beigabe Ihnen und andern Leuten auf unserer letzten akademischen Ausstellung viel mehr Entzücken bereitet hat als mir! Das reicht vollkommen aus, mir die Ohren voll und das Hirn leer zu schwatzen. Da – nehmen Sie meinen Fächer; Sie scheinen mir etwas echauffirt – ja es ist recht schwül hier im Thal, und man sehnt sich wohl nach einem kühlen Luftzug. Erzählen Sie jetzt, wo Sie gestern und vorgestern gewesen sind, berichten Sie, was Ihnen Ihr Schritt vom Wege, von unserm – meinem Wege eingebracht hat. Sie erinnern sich, daß ich Sie nur unter der Bedingung losgegeben habe, mir mein Theil von Idylle hierher mitzubringen. Wie haben Sie Ihren geistlichen Freund gefunden in seiner glückseligen Abgeschiedenheit? was haben Sie dort erlebt, während wir hier wie gewöhnlich von unserm wenigen Erlebten nur zuzusetzen hatten?“

Dieses wurde am Tage nach der Ankunft Veit’s im Bade auf einer beschatteten Bank in der Nähe des Kurhauses gesprochen, während die Badeblechmusik in das Rauschen der Springbrunnen, das Geplauder und Hin- und Herwogen der Gesellschaft ihre Märsche, Tänze und Potpourris hineinschmetterte. Es war wahrlich nicht Zeit und Gelegenheit, jetzt und hier auch der schönsten und geistreichsten Bekannten und Fragstellerin über so ernste Wirkung eines Schrittes vom Wege Bericht abzustatten. Veit würde wahrscheinlich, trotz der Macht, die Valerie über ihn ausübte, den Versuch gemacht haben, sich ihr „mit Worten“ zu entziehen; wenn nicht ein neuester Bekannter sich in die Unterhaltung gemischt und sie bei dem Pfarrhause da oben in den Bergen, bei der Hütte auf der Vierlingswiese und bei dem Räkel und der Fee festgehalten hätte.

„Siehe da, mein Herr Professor!“ rief Landphysikus und Badearzt Dr. Hanff. „Also glücklich gerettet aus der Tragödie in die Komödie, aus den Mysterien der Wildniß in unsere gewöhnlicheren, aber Gott sei Dank recht gesunden Zustände? Es that mir sehr leid, daß ich nicht gestern, meinem festen Vornehmen gemäß, hinauf reiten konnte, um mir das Resultat Ihrer und Fräulein Phöbe’s Bemühungen abzuholen. Sie wissen – Brennpunkt unserer hiesigen, sonst so nüchternen, dürren Lebensführung; – angenehmste gesellschaftliche und, gottlob nicht beunruhigende amtsthätliche Verpflichtungen nach allen Seiten! Vertheilung einer bescheidenen Landdoktorexistenz bis in die vierte Dimension! Aber eben komme ich von da oben, von der Vierlingswiese, vom Vorsteher, vom Kirchhofe und den Geschwistern Hahnemeyer, und kann jetzt nur fragen: was sagen Sie zu dieser Geschichte, meine Gnädigste? Daß der Herr Baron Sie bereits in die unheimlichsten Einzelheiten derselben eingeführt und mit seiner eigensten originellen Beihilfe zur Lösung des Konflikts bekannt gemacht hat, darf ich wohl voraussetzen?!“

Da war nun kein Ausweichen mehr möglich. Es gab nun ein Wort das andere, und Valerie hatte nicht im Geringsten nöthig, von ihrer Macht über ihren Gesellschaftsgenossen Gebrauch zu machen. Er erzählte ihr, bei welchen Leuten er die letzten Tage gewesen war, und hinter welche harte, hohe, furchtbare Mauern ihn der Seitenpfad, den er so lächelnd betrat, geführt hatte. Er berichtete ihr von der Vierlingswiese, von Prudens und Phöbe, von dem Vorsteher und dem Meister Spörenwagen; und so lange der Doktor seine Erläuterungen oder gar seine Anekdoten dazu gab, saß das Fräulein bewegungslos und murmelte nur einmal, seitwärts aufblickend:

„Welche Idee!“

Als aber der Doktor sich empfohlen hatte, erhob auch sie sich, und da sie trotz der Mittagsgluth ein leises fröstelndes Zusammenziehen der Schultern nicht unterdrücken konnte, sagte sie fast finster:

„Das überkam mich nur, wie ich mir überdachte, wem in unserm Kreise ich hiervon weiter erzählen könnte.“

„Ich habe auch nur Ihnen davon gesprochen, Valerie.“

Sie stand eine Weile stumm neben ihm, dann sprach sie:

„Sie haben sich in jener Stunde recht einsam in der Welt gefühlt, Bielow. Hatten Sie denn Niemand, konnten Sie an Niemand denken, den Sie erst im Stillen fragen mußten, ob Sie ihm durch Ihren Handel und Kauf keine Betrübniß, keinen Schmerz bereiteten? den Sie nicht eifersüchtig machten durch Ihre nur für eigene Rechnung sich bindende Erwerbung von solch’ traurigem Erdengrundbesitz? He Claudio, Claudio, ungetreuester, aber sinnigster aller Vettern!“

„Du befiehlst, schöne Base?“

„Nichts als Deinen Arm, mein Lieber, und den Schutz Deines Sonnenschirmes bis zum Hôtel. Es wird wohl Zeit zur Toilette für die Table d’hôte. Wir sehen uns doch an dieser Tafel des Lebens, Herr von Bielow?“

Ohne die Antwort abzuwarten, schritt sie von ihm hinweg. Er aber sah ihr verwirrt, staunend, ja erschrocken nach:

„Was war dies?“

Er hätte ihr nachlaufen mögen, um sie an der Hand zu fassen und sie auf den fernsten, sonnigsten Berggipfel zu entführen aus dem buntfarbigen, geschwätzigen, lachenden Schwarm, durch den sie eben so stattlich, so ruhig hinging. Dort in dieser heißen Mittagsgluth unter dem blauen Himmel auf der einsamsten, stillsten Berghöhe hätte er sie fragen können:

„Was sollte dieses sein? Was hast Du da geredet, Mädchen?“

Aber da war es ihm, als höre er grade jetzt ihr helles, wohltönendes Lachen durch all den Lärm der heitern Gesellschaft um sich her, und er vermochte sich nicht von seiner Bank zu regen. Noch recht lange saß er dort und grübelte über die Frage:

„Veit Bielow, wie viel Unbedachtsamkeit, Leichtlebigkeit, Sorglosigkeit und Egoismus verbarg sich für Dich, den Gelehrten, den Lebenskünstler, den Weltmann, unter jener Augenblicksempfindung und -handlung dort oben in der Fieberhütte des Räkels an der Leiche der Fee und auf jenem kleinen, den Menschen unbekannten Dorfkirchhof an der Seite jener Dir vor drei Tagen noch so unbekannten jungen Schulschwester aus dem Idiotenrettungshause Halah?“

In diesem Augenblick fühlte er seinerseits einen eisigen Schauder durch alle Glieder; dann ein heftiges Andringen des Blutes nach Kopf und Herzen. Er griff sich an die Stirn und sah mehrere Minuten lang Alles um sich her – die Berge, die hübschen Häuser und Villen, die springenden Wasser – alle Farben an Himmel und Erde – das fröhliche Gewühl der Menschen, wie durch einen blutrothen Schleier. Und durch ein seltsames Sausen in seinen Ohren vernahm er das Rauschen der Unterhaltung der Erwachsenen und den fröhlichen Lärm der Kinder wie in immer weiterer Ferne verhallend, aber die lustige Musik der Badekapelle mit dem betäubendsten, gellendsten Mißklang wie aus dem eigenen Hirn heraus.

Doch das ging vorüber, und es blieb nur eine trübe melancholische Stimmung und längere Zeit auch ein körperliches Unbehagen, eine träge Schwere in Händen und Füßen zurück. Allgemach gelang es ihm jedoch, letzteres wenigstens wieder von sich abzuschütteln. Hastig sprang er auf und warf sich ebenfalls in den heitern Schwarm und Reigen. Lauter und lebhafter, als sonst seine Art war, mischte er sich in die Unterhaltung, beredete mit Valerie’s Vater Tagespolitik, zeigte außergewöhnliches Interesse für die Gesprächsstoffe ihrer Brüder, Vettern und sonstigen männlichen Reisegefährten und wurde bei Tisch auch von allen Kousinen und übrigen Damen aus ihrer Begleitung im Stillen für den angenehmsten, wünschenswerthesten, liebenswürdigsten aller Villeggiaturgenossen erklärt.

Dessenungeachtet wurde er keinen Augenblick das Gefühl aus der Seele los, daß er eine Kette hinter sich herschleife. Ein unbestimmtes Schuldgefühl, über das er immerfort mit sich selber zu rechten, abzurechnen hatte, drückte ihn und zog ihm den Tag und dessen wechselndes Leben zu einer unendlichen Länge auseinander. Daß Valerie in ihrem Verkehr mit ihm keine wesentliche Veränderung zeigte, sondern in gewohnter Weise ging, saß, lachte, lächelte und sprach, gab keiner langsam sich schleppenden Stunde oder Minute dieses Tags raschere Flügel, den gewohnten leichten Flug.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_527.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)