Seite:Die Gartenlaube (1885) 541.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

ihrem ganzen Leben, andere haben wieder alle drei bis vier Jahre einen Anfall, während viele in wenigen Jahren Tausende von Anfällen haben bei Tag und bei Nacht, bei Leid und Freud.

„Pst, die Depesche!“
Nach dem Oelgemälde von H. Max.
Photographie im Verlag von G. G. Steiner u. Co. in Wien.

Oft halten die Anfälle bestimmte Zeiten ein, so daß die Aerzte zu dem falschen Glauben kommen, es handle sich um eine Art Wechselfieber. Bei vielen kommen nur Anfälle, wenn sie sich verderben: erkälten, stark aufregen, eine Indigestion zuziehen etc. Die Folgen der epileptischen Anfälle sind oft sehr traurige, namentlich wenn die Anfälle in sehr kurzen Intervallen auftreten. In armen Familien, wo man die Kranken nicht überwachen kann, giebt es natürlich in Folge des plötzlichen Zusammenfallens viele Beinbrüche, Verrenkungen, Wunden u. dgl. m.

Die Kranken werden nach und nach elend an Körper und Geist, verlieren das Gedächtniß, werden sogar ganz blödsinnig. Doch geht es nicht bei allen so übel. Es giebt sogar eine große Anzahl von Beispielen, wo sich der Geist trotz vieler epileptischer Anfälle staunenswerth entwickelte und Großes leistete.

Die Geschichte erzählt von ganz hervorragenden Männern, welche beständig an Epilepsie gelitten haben. Julius Cäsar, Peter der Große, Mohammed, Karl V., Rousseau, Napoleon I. und selbst der weltberühmte Newton waren davon befallen.

Von Laien werden öfters die krampfhaften Zuckungen nervöser Frauen mit Epilepsie verwechselt. Aufmerksamen Aerzten dürfte dies wohl kaum begegnen, denn hysterische nervöse Frauen verlieren das Bewußtsein gewöhnlich nicht ganz, stürzen nicht so plötzlich zusammen, schäumen nicht und drehen die Daumen nicht so ein. Auch folgt der Schlaf nicht so unmittelbar auf den Anfall wie bei Epileptikerinnen. Eine große Uebung und Aufmerksamkeit erfordert es aber hier und da, simulirte Anfälle von wahren zu unterscheiden. In einem Zuchthause lernte ich einen Simulanten kennen, der den sehr tüchtigen Hausarzt jahrelang täuschte.

In Zuchthäusern bekommen nämlich solche Sträflinge, welche an Epilepsie leiden, mancherlei Erleichterungen. Man giebt ihnen ein weiches Bett, nährt sie besser und schont sie in verschiedener Weise. Der eben besprochene Simulant hatte jahrelang alle Wochen zwei bis drei Anfälle, so daß ihm vom Hausarzt jede erlaubte Erleichterung verschafft wurde. Im Uebermuthe theilte derselbe seinem Nebensträflinge mit, daß er ganz gesund sei und die Epilepsie nur simulire. Der Nebensträfling denunzirte ihn beim Arzte, und dieser ließ den Simulanten kommen und stellte ihn mit dem Bemerken zur Rede: wenn er Alles offen eingestehe, so werde er nicht angezeigt und könne alle seine Erleichterungen behalten, wenn er aber lüge, so lasse man ihn bestrafen. Darauf hin erwiderte der Sträfling, daß er ganz gesund sei, diese epileptischen Anfälle aber in seinem zehnten Jahre schon gelernt habe und seit dieser Zeit mit vielem materiellen Nutzen fortübe. Als zehnjähriger Knabe sei er mit einem Stück Brot in der Hand auf der Landstraße gegangen; ein reisender Bursche habe ihm das Brot abgebettelt, und als er es hergegeben, sagte der Reisende: siehe, jetzt lehre ich Dich die hinfallende Krankheit, übe sie recht ein, dann kannst Du immer essen und trinken ohne zu zahlen, und brauchst nicht Soldat zu werden.

Der Knabe übte nun alle Bewegungen, welche er von dem Reisenden gelernt hatte, zu Hause fleißig ein und machte alsbald damit die besten Geschäfte. Der Epilepsie wegen wurde der faule Bursche in seiner Lehre behalten, der Epilepsie wegen, welche vom Dorfschullehrer und Dorfpfarrer bestätigt war, wurde er militärfrei. In den Wirthshäusern aß und trank er nach Lust, und wenn es zum Zahlen kam, stürzte er zusammen, und der erschrockene Wirth ließ ihn noch schnell nach Hause tragen auch, weil er Sorge hatte, durch den ekelhaften Anblick seine Gäste zu vertreiben. Sein Leben war ein Gemisch von Betrug, Betteln und Stehlen. Er war bereits zum zweiten Male im Zuchthause, jedesmal mit jenen Milderungen, die man Epileptischen gönnt.

Der erstaunte Zuchthausarzt hielt sein Wort und verklagte den Sträfling nicht, nahm aber einen in Nervenkrankheiten geübteren Kollegen mit sich in das Zuchthaus und bat den Sträfling, vor ihren Augen einen Anfall zu produciren. Plötzlich stürzte derselbe mit einem grellen Schrei zusammen, drehte die Daumen ein, schäumte am Munde, verdrehte die Augen, bog den dunkelblauen Kopf starr nach rückwärts und wälzte und schlug um einander, daß beide Aerzte, die ihn überall beschauten und berührten, erstaunt waren. Nach ungefähr drei Minuten ließ der Anfall nach und trat ein ruhiger Schlaf ein, wobei der Sträfling plötzlich auflachte und frug: „Hab’ ich meine Sache gut gemacht?“

Bei näherer Betrachtung mußten aber die Aerzte doch gestehen, daß mit größerer Aufmerksamkeit die Simulation zu erkennen. war: Der Simulant fiel schon viel vorsichtiger zusammen, weil er sich den Kopf nicht zerschlagen wollte, die Pupillen hatten nicht die Unbeweglichkeit, der Puls nicht die Unregelmäßigkeit, wie bei einem Epileptiker; drehte man dem Simulanten die eingebogenen Daumen heraus, so zog er sie wieder ein, was bei wahrer Epilepsie nicht geschieht. Das dunkle Gesicht während des Anfalles war herrlich simulirt worden, aber die Blässe nach dem Anfall brachte er nicht zuwege. Scharfe Riechmittel machten den Simulanten niesen, während die wirklichen Epileptiker davon nicht gereizt werden.

Mit einem Wort, der Hausarzt mußte sich sagen: Hätte ich alle Hilfsmittel der ärztlichen Kunst zusammen genommen, so wäre mir die Simulation nicht entgangen. Uebrigens besitzen die Aerzte gegenwärtig im Chloroform auch ein Hilfsmittel, wirkliche Epilepsie und Simulation von einander zu unterscheiden. Epileptische bekommen im Chloroformrausch meist einen sehr heftigen Anfall.

Epilepsie wird ziemlich häufig simulirt, weil sie so viel Mitleid erregt, daß ein

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_541.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2024)