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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

„Leider, wie es scheint, Dein besonderer persönlicher Gönner und Günstling, Baron Bielow, Kind,“ antwortete der Papa. „Der Doktor spricht von möglichen gastrischen Komplikationen; ich lese da wie immer in solchen Fällen nicht ohne einige Unruhe zwischen den Zeilen. Recht unangenehm! sowohl für den Betroffenen selbst, wie auch für seine nächste Umgebung; unter obwaltenden Umständen also auch für uns in seiner Nachbarschaft, unter Einem Dache mit ihm.“

„Kenne die Symptome noch ziemlich genau von Versailles her, meine Gnädige,“ meinte einer der älteren militärischen Begleiter. „Keine Idee von Sonnenstich, wie Komtesse Alice meinten; – Typhus ganz einfach. Was hatte auch der extravagante Mensch, wie das so allmählich in die Tagesordnung durchsickerte, überall herumzukriechen, um das in die Gesellschaft einzuschleppen? Excellenz haben ganz Recht – im hohen Grade peinlich diese Geschichte! Nicht so, Doktor?“

Doktor Hanff zuckte von Neuem die Achseln; aber Fräulein Valerie, deren Augen während dieser Unterhaltung von einem Gesichte zu dem andern im Kreise ihrer Gefährten umgewandert waren, schien die Betäubung wie in einem Krampfe von sich zu schütteln. Sie trat auf den Arzt zu, faßte seinen Arm und flüsterte ihm zu:

„Kommen Sie – reden Sie zu mir!“

Sie zog ihn einige Schritte abseits. Im Schatten des nächsten Baumes fühlte er ihren Athem heiß an seinem Gesicht:

„Was wurde da erzählt? Ich bitte, verzeihen Sie mir – ich bin den ganzen Tag im Freien gewesen, in der Sonne – dieser Lärm betäubt und verwirrt mich vollkommen. Wovon war da eben die Rede? Wonach fragte man Sie und was wußten Sie diesen Leuten zu sagen? … Was ist das mit dem Mann? Doktor, ich weiß es ja auch schon, wo dieser unbedachtsame Mensch während der letzten Tage herumgekrochen ist, und ich habe heute im Walde mit der Familie Fuchs zu Mittag gegessen, und ich war da oben auf der Vierlingswiese und im Pfarrhause beim Pastor Prudens Hahnemeyer. Ich hielt den Lauf der Stunden hier unten nicht länger aus. Ich habe mir von Ihrer kleinen Beguine aus Schmerzhausen ihren Friedhof und das Grab der Fee zeigen lassen. Nicht wahr, auch äußerst extravagant und absurd? Was ist mit dem Professor Bielow, Doktor Hanff?“

„Wenn mich nicht alle Erfahrung meiner Praxis täuscht, und Sie nicht getäuscht sein wollen, gnädiges Fräulein — das, was in der Familie Fuchs auf der Vierlingswiese seinen Willen gehabt hat! das, weßwegen Gemeinde und Vorsteher im Dorfe dort oben und ich von hier aus den Räkel und die Fee sammt ihren Jungen aus dem Orte in den Wald schafften – das Beste für alle Parteien, was sich thun ließ! Unser armer, braver, unvorsichtiger Herr hat sich meines Erachtens den Typhus – den richtigen Fleckentyphus – exanthematicus – aus der schlechtesten Gesellschaft in die beste mitgenommen. So ein alter Landphysikus weiß auch als ziemlich neugebackener Bade-Arzt bald, mit wem er es zu thun hat, und so sage ich Ihnen, liebes Kind, das jetzt schon offen heraus, was die übrigen hochverehrten Herrschaften leider demnächst auch werden erfahren müssen. Wie Excellenz und der Herr Major ganz richtig bemerkten – höchst peinlich, recht unangenehm für die Saison!“

„Ich danke Ihnen, Doktor,“ sagte Valerie. „Lassen Sie uns gute Freunde bleiben; das heißt, zählen Sie mich auch während unseres ferneren Verkehrs hier am Orte zu den Menschenkindern, die nicht als Unmündige zu behandeln sind.“

Sie gab, ehe sie zu der Gesellschaft zurücktrat, unserem wackeren Freunde Hanff die Hand, und er benutzte selbstverständlich die Gelegenheit, ihr den Puls zu fühlen. Dann ihr aus dem Schatten des Gebüsches in das Lampen- und Laternenlicht der Terrasse nachsehend, brummte er:

„Ziemlich normal! Wirklich ein prächtiges Mädchen! Hm, und da oben ist sie gewesen bei meiner lieben Phöbe und unserem im Herrn verdrossenen Knecht Gottes, Pastor Prudens Hahnemeyer? Mit dem Räkel und seinen Jungen hat sie am Waldfeuer aus Einem Napf gegessen? Die Vierlingswiese hat sie sich angeguckt und das Grab der Fee? Da addire Dir nur mal Allerlei zusammen, Bruder Hanff! Nun, jedenfalls wird sie bei ihrer Bluttemperatur das Ihrige thun, den Schrecken des alten Pan uns so lange als möglich hier von Daphnis und Chloe, Amynt und Solimene fern und die Heerde beisammen zu halten.“

Das Koncert war beendet, die Symphonie Beethoven’s verklungen, und von den glänzend hellen Sälen her erscholl jetzt wieder die Aufforderung zum Tanz lustig und laut. Valerie, durch das Gewühl schreitend, hörte den Räkel am Feuer unter den Windfallhölzern vom Leben und Sterben auf der Vierlingswiese erzählen; sie sah Phöbe auf ihrem Eigenthum in der Abendsonne stehen: „Suche Dich zu besinnen!“ hatte sie gesagt; und zur Rechten und Linken Begrüßungen, freundlichem Wort und Scherz sich neigend, suchte Valerie aus ihrer Verwirrung es herauszudenken, ob und wie auch ihr Bild wohl auf dem Lärm dieser Menschen und dieser Hörner, Pauken und Trompeten in die Fieberträume des erkrankten Freundes in dem großen unruhvollen Gasthause nebenan hineingetragen werde?!


17.

Landphysikus Doktor Hanff hielt wieder vor dem Pfarrhause des Pastors Prudens Hahnemeyer, stieg ächzend, schwerfällig ab, oder kletterte vielmehr herunter von dem geduldigen Berufsgaul, schlang den Zügel in den Ring am Thürpfosten und rief kräftiglich sein: „Holla, Freundschaft!“ aus dem heißen Sonnenschein der Landstraße auf den kühlen dunkeln Hausflur hinein. Da selbstverständlich Niemand antwortete, durchschritt er das Haus und fand im Garten in der Laube an der Kirchhofshecke Bruder und Schwester in gewohnter Weise wortlos einander gegenüber, den Pfarrer über einem Buche, Fräulein Phöbe mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt.

„Glück auf!“ sprach der Doktor, als der Erstere emporsah und die Andere sich von ihrer Bank erhob, den alten fröhlichen Bergmannsgruß, der manchen Kurgast da unten so anmuthete, daß der nunmehrige schlaue Bademedikus gern den Leuten den Gefallen that und ihn in seiner sommerlichen Honoratiorenpraxis überall da anwendete, wo er ihm hinzupassen schien; obgleich er sonst allgemach gut genug mit den landläufigeren Formeln der Höflichkeit umzugehen wußte.

„Nur einen Augenblick, liebe Kinder,“ rief er, seinen Strohhut auf den Gartentisch werfend und sich seufzend auf dem nächsten Sitze niederlassend. „Ein Sommer diesmal, wie er gewöhnlich nicht im Buche steht, hier wenigstens bei uns zu Lande. Dazu die ersten Masern- und Scharlachfälle der Saison im Dorfe – enorm die Hitze bergauf – Pflichtgefühl, moralische und sonstige Verantwortlichkeit! Na, Pastore, in Ihrer Gegenwart darf man sich wohl nicht die Andeutung erlauben, daß man mit zunehmenden Jahren und abnehmendem Haarwuchs die Berechtigung erlange, allmählich dafür zu danken?! Ja, ja, man merkt’s allgemach, daß man älter wird! Nun, wie steht’s hier, junges Volk? Wie gewöhnlich? Desto besser. Blut- und Hauttemperatur normal? Kühl bis ans Herz hinan? Jawohl, Fräulein Phöbe, liebste Kollegin, nur nicht lange fragen; auch für einen kühlen Trunk würde ich Ihnen in der That sehr verbunden sein.“

Er bekam, was das Haus zu bieten hatte, und war zufrieden damit.

„Besten Dank, Kollegin. Nun etwas Feuer auf die Pfeife, und wir haben Alles beisammen, was dazu gehört, so einem alten Dorf- und Waldpraktikanten im Schatten unter guten Freunden wieder zum Aufathmen zu helfen. Uebrigens, Kollegin, Mitdorf- und Waldpraktikantin, haben Sie eigentlich eine Ahnung davon, wie sehr sich Unsereiner doch dann und wann zu gratuliren hat, wenn er so einen lieben Puls gleich dem Ihrigen immer noch im regelrechten Takte vorfindet? Da kommt, Gott sei Dank, die alte Erfahrung von Neuem heraus, daß wir vom Handwerk allesammt so ziemlich in der gleichen Weise gefeit sind. Lauter hörnene Siegfriede und Kunigunden, wir Quacksalber und Heilgenossen und Genossinnen mit und ohne Approbation eines hohen Obermedicinalkollegiums! Es sollen eben beiläufige Amateurs die Hände vom Geschäft lassen und ihre Nasen, der malerischen Situationen wegen, nicht in Typhushütten stecken und melodramatische Scenen an Exanthemleichen agiren. Das Ding hat seine Haken, Sporen, wie man das jetzo nennt, und einer davon genügt hier und da, solchen Liebhaber tragischer Touristenerlebnisse scharf bergab zu ziehen, auch aus der besten, liebenswürdigsten und respektabelsten Gesellschaft heraus!“

Mit großen starren Augen sah Phöbe Hahnemeyer auf den Arzt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_559.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)