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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
(Fortsetzung.)


18.

Die Weisheit Salomonis hat’s schon:

„Wo etwa ein Wind hauchte, oder die Vögel süße sungen unter den dicken Zweigen, oder das Wasser mit vollem Lauf rauschte, oder die Steine mit starkem Poltern fielen, oder die springenden Thiere, die sie nicht sehen konnten, liefen – oder der Widerhall aus den hohlen Bergen schallte: so erschreckte es sie und machte sie verzagt.“

Aber:

„Die ganze Welt hatte ein helles Licht und ging in unverhinderten Geschäften.“

So war’s freilich drunten im Bade!

Der Bergschrecken, die Angst beim Wehen des Windes, beim Singen der Vögel und dem Rauschen der Bäche war doch nur auf einen Theil der Gesellschaft, wenn gleich den „besten“, gefallen und hatte ihn in die Flucht getrieben; aber es befanden sich gegen zweitausend Fremde aller Stände im Thal, und ein Theil kann zwar unter solchen Umständen mehr sein als das Ganze, aber doch eigentlich niemals das Ganze selbst. In diesem Falle bedeutete das Bruchstück, Alles in Allem genommen, doch nur wenig. Neue Ankömmlinge, die nichts von dem Professor Bielow, der schönen Valerie, dem guten Onkel Anton, von Papa Excellenz, den Vettern und Basen und aller sonstigen Genossenschaft des uns angehenden Kreises wußten, hatten sich in die Kurliste eingetragen. Viel neue Koffer, Schachteln, Kisten und Kasten waren vor dem Aktienhôtel abgeladen worden; und andere sorglose, harmlose, ahnungslose Gäste hatten die leergewordenen Gemächer bezogen und sahen, von heimathlicher Schwüle und Sorge aufathmend, aus den hohen Fenstern auf die grünen Berge und in das fröhliche, bunte moderne Sommertreiben zu ihren Füßen.

Die Badeverwaltung hatte wahrlich das Ihrige gethan, alle verdrießlichen Folgen des betrüblichen Zufalls und jedes böse Gerücht davon im Keime zu ersticken, und Doktor Hanff hatte ihr getreulich dabei geholfen – auch ein wenig im eigenen Interesse.

Es schien Niemand fortgegangen – abgereist zu sein. Es fehlte keine Farbe, kein Ton, kein kluges und kein albernes Wort um die springenden Brunnen, in den Sälen, auf den zierlich gehaltenen Waldwegen, auf den Ruhebänken und lustigen Wiesenflächen: auch diese flüchtige „ganze Welt“ hatte ihr helles Licht behalten und ging unverhindert ihren Geschäften und ihrem Vergnügen nach. Wer nicht mehr gesehen und gehört wurde, der war eben vergessen, „wie man Eines vergisset, der nur einen Tag Gast gewesen ist.“

Da glitt von jenen freudiggrünen Bergen, wo die Vögel so süß im dichten Gezweig sangen, wo die Quellen sprudelten und die Luft so lieblich war und von wo doch manchmal ein dumpfes Rollen wie von fallendem schweren Gestein oder fernem Donner herüber hallte, eine unscheinbare, schmächtige, scheue Gestalt durch den Lärm und das Gewühl der Sommerlust. Landphysikus Doktor Hanff, die Hände unter den Rockschößen, breitbeinig hingestellt in einem lachenden Kreise seiner Saisonpatienten, hörte plötzlich leise seinen Namen hinter seinem wackeren Rücken ausgesprochen, und, sich wendend, sah er mit nicht geringem Erstaunen und mit hochgezogenen Brauen auf die Unterbrecherin einer seiner „besten Geschichten“ und behielt die Pointe der Schnurre für diesmal gänzlich für sich.

„Sie, Fräulein Phöbe?“

„Mein Bruder wäre gern mit mir gekommen, Doktor; aber er hatte so viele Amtsgeschäfte und mußte auch wieder nach dem Filial zu einem andern Kranken. So hatte er nichts dagegen, daß ich allein ging.“

„Und, mit Erlaubniß, was haben Sie denn da in dem Bündel?“

„Einige Wäsche. Spörenwagen hat’s mir bis vor den Ort getragen. Er ist aber schon umgekehrt nach Hause; denn er konnte sich auch nicht von seiner Arbeit zu lange abmüßigen.“

„Hm, allein ging? Hierher in die sündige Erdenlust? Zum Koncert der Bückeburger Jägerkapelle?“

„Zu – meines Bruders liebem Jugendfreunde.“

„Zu –“ er brachte sein Wort erst zu Ende, nachdem er das junge Mädchen fast heftig aus dem Kreise herausgezogen hatte – „zu meinem Kranken hier im alten Siechenhause? Bei Gott nicht!“

„So wahr mir der Herr geholfen hat, – immer geholfen hat, dort oben im Dorfe und im Walde und vorher in mancher bösen Stunde unter meinen lieben Kindern in Halah.“

„Ich gebe die Erlaubniß nicht, Phöbe!“

„Sie haben, gestern noch, mich Ihre Helferin und Kollegin genannt und gesagt, daß Sie gern mich zur Hilfe bei Ihrer Kunst und Wissenschaft bei sich sähen in der Noth. Sie haben mich zu sich gezählt durch Ihr Wort und haben mich froh gemacht mitten im Schrecken. Und in der Hütte auf der Vierlingswiese haben Sie mir auch nichts in den Weg gelegt, sondern mich Ihnen helfen lassen unter Gottes Schirm bis zum Ende. Und Sie wissen, daß dieser arme Fremde der Freund meines Bruders ist, und – Sie wissen – ja, Sie wissen, wie er mich an sich gebunden hat! O, er hatte wohl keine Ahnung davon, wie bald der Herr an der Kette ziehen würde; ich aber komme nicht zur Ruhe in meiner Angst, bis ich ihn gesehen habe. Es kann mich Keiner aufhalten auf dem Wege; aber Sie können mir helfen; o helfen Sie mir, Doktor Hanff! Ich komme ja nicht aus meinem Willen hieher; aber ich muß zu ihm; denn es ist kein anderer Weg aus meiner Angst heraus!“

Sie waren auf dem Promenadenplatz nach und nach immer weiter abseits getreten von dem Schwarm, in dessen Mitte Doktor Hanff eben noch so munter die Unterhaltung geführt hatte. Nicht wenige der Kurgäste blickten mit einiger Verwunderung dem vor einem Augenblick noch so heitern jovialen Badearzt nach und fragten sich, welches Aergerniß ihm wohl dieses kleine melancholische Frauenzimmer in Grau, dem man das Pastorhaus auf tausend Schritt ansah, in den guten Humor getragen haben möchte. Aber das Hin- und Herwogen der Menge zog auch diese flüchtigen Beobachter bald ab und zu anderer Unterhaltung hin, und in einem von Menschen und Lauschern leeren Baumgang konnten der Doktor Hanff und Phöbe Hahnemeyer ihre Verhandlung ungestört fortsetzen und zu Ende bringen.

Der Doktor gab fürs Erste seine Ansicht in Betreff des Wunsches des jungen Mädchens noch nicht auf.

„Kind,“ rief er grimmig, „aber dieser Mensch, dieser unglückselige Baron, Professor der Aesthetik – der Staatswissenschaften – was weiß ich – gehört ja so wenig – wie, wie manche Andere zu Euch! Er kommt aus einer anderen Welt, aus Licht und Schatten derartiger menschlicher Naseweisheit, daß Ihr Euch fast schaudernd davor zur Seite drückt. Er ist, wenn auch kein Spötter, so doch unbedingt ein Gottloser, ein Mann ohne allen Respekt vor Gott Vater, Sohn und heiligem Geist.“

„Aehnliches sagte mein Bruder auch von dem armen Volkmar Fuchs, und er ist doch zu ihm gegangen bei Tage und bei Nacht, und hat seine bösen Worte nicht geachtet und hat sich nur mit seinem Blick gewehrt, als der unglückliche Wilde in seiner Unwissenheit mit dem Stock nach ihm schlagen wollte.“

„Aber dieser höfliche, gelehrte, feine Herr, dieser Veit von Bielow ist noch viel ärger nach Euren Begriffen als Räkel und Fee im rothen Pelz im Walde und Räkel und Fee in ihrer Hütte auf der Vierlingswiese!“

„Er hat hieran wohl nicht gedacht, als er in seiner edelmüthigen Klugheit auf seine Weise dem Volkmar aus seiner rathlosen Unbändigkeit heraushalf und sich in seiner Lebensfreude verwegen mit mir band, mitten in seiner Kraft und auf dem Wege. Er hat es aber gethan; und wenn der Herr es nicht anders will, werden wir in seinem Frieden neben einander gebettet werden und auf seinen Ruf zu seinem Gericht warten. Ich habe aber keine Ruhe zu Hause, bis ich den Weg- und Zielgenossen selbst gesehen habe, und ich hätte es auch recht von ihm gefunden, wenn er in meiner letzten Noth, zu meinem Krankenbett gekommen wäre.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_575.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)