Seite:Die Gartenlaube (1885) 576.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

„Nun denn, in drei Teuf – – in Gottes Namen! Euch aus Eurer Kinderwelt komme man einmal mit seinen Einwürfen und Bedenken aus der Receptirkunst seiner Erdenpraxis in Hinsicht auf Verstand und Anstand, Vernunft, Sitte und Gewohnheit und was sonst so für uns in der Heerde und kurz, in der Zeitlichkeit mit zu Knigge’s Umgang mit Menschen gehört. Geben Sie her Ihr Bündel, Fräulein Phöbe. Also mit dem heillosen Socialdemokraten und weitgebummelten Nihilisten Spörenwagen haben Sie auch noch gerathschlagt, ehe Sie sich auf diesen sonderbaren Weg machten? Na, eine nette Gesellschaft seid Ihr; und Staat und Kirche werden sich noch oft hinter den Ohren kratzen müssen, ehe sie mit Euch zurecht kommen. Da war ja der Racker, der Räkel ein wahres Vergnügen gegen Euch mit Eurem merkwürdigen großen Hobel; denn der Schlingel wollte doch eben nichts weiter, als was wir Andern auch wollen, bei jedem Verdruß nämlich den Knubben und Knorren in seiner Konfusion spielen, um seinem Gift Luft zu machen.“

Fräulein Phöbe gab ihr Bündel nicht her.

„Es ist leicht genug, und es würde sich auch nicht für Sie schicken,“ meinte sie.

Dagegen berichtete sie mit freudiger Treuherzigkeit, wie sich Meister Spörenwagen auch sonst ihrer, das heißt des Pastorenhauses und des Bruders Prudens drin hilfreich angenommen habe.

„Es war mir eine rechte Sorge, wie ich das einrichtete. Sonst hilft mir nur dann und wann Jemand aus dem Dorfe in der Wirthschaft, und meistens auch nur ein Kind oder junges Mädchen, dem ich das Nähen lehre. Es ist so traurig, daß sie Alle solche Scheu vor meinem Bruder tragen und immer meinen, er denke nur Zorn und Mißachtung gegen sie und suche sie nur aus Stolz seiner Seele in ihren Angewohnheiten zu stören und kränken. Und er meint es doch so gut in seinem heiligen Amte und würde sein Leben darin lassen für sie. Ohne Spörenwagen hätte ich gar nicht gewußt, was er anfangen sollte in meiner Abwesenheit. Für sich selber sorgt er ja gar nicht, und wenn ihn Niemand zum Essen holt und damit auf ihn wartet, denkt er selber gewiß nicht daran.“

„Ja, das ist so einer von den bescheidenen Kostgängern auf Erden, wenn er sonst nur seinen Willen kriegt,“ dachte Doktor Hanff. „Schade daß wir die eben verflossene Excellenz und den braven Onkel Anton, den Herrn wirklich Geheimen nicht noch ein wenig länger hier aufgehalten haben. Meinen ganzen Einfluß hätte ich angewendet, diesen jungen, versauerten Wüstenheiligen von da oben herunter zu holen und ihm anstatt seiner Kanzel in der Wüste eine gedeihlichere Stelle unter fidelen gebildeten Leuten, zum Exempel hier unter uns und vorzüglich in der Badesaison, zu verschaffen. Na, wer weiß, was unser interessanter Patient, wenn wir ihn mit Hilfe dieses wirklichen Kindes Gottes herausreißen, bei den Seinigen an maßgebender Stelle in dieser Hinsicht zu leisten vermag. Das Juchhe da oben in der Dorfidylle wegen eines günstigen Resultats möchte ich auch hören! … Nun, Kind, wen hat denn Ihr verborgener Philosoph und Schlaumeier Spörenwagen ausfindig gemacht, der es – der sich des guten Prudens während Ihrer Abwesenheit in der Weltlichkeit annehmen will?“

Nur das letzte Wort natürlich war für das Gehör der Schwester laut genug gesprochen worden, und Phöbe Hahnemeyer rief fröhlich lächelnd:

„Er will selber kochen, wenn’s nöthig sein sollte; aber er glaubt, daß es nicht nothwendig sein wird, denn er hat ja auch noch seine alte Base, die zwar nicht recht gut mehr sieht und hört, aber doch ihre Stube und Person noch ganz sauber hält.“

„Da lade ich mich womöglich morgen schon zu Tische!“ rief Ländphysikus Doktor Hanff lachend. „Morgen schon reite ich zu Mittag hinauf, um mich mit Löffel und womöglich auch Messer und Gabel zu überzeugen, daß der Herr immer noch für die Seinen sorgt.“

„O bitte, thun Sie das! ich bin Ihnen so dankbar dafür in meiner Unruhe,“ sagte Phöbe.

Sie waren während dieser Unterhaltung ein gut Stück Weges durch den lang im Thal gegen die Ebene sich hinstreckenden Ort mit seinem lustigen Sommertreiben hingeschritten. Es war ungefähr gegen sechs Uhr am Nachmittag, vielleicht auch schon ein wenig mehr gegen Sieben, gegen den Abend. Wir können das nicht genau angeben; denn nunmehr ist es, als stünde Alles, was uns die Zeit mißt, auf der Erde still, und als sei nur ein einziger ruhiger Pulsschlag durch das Weltall. Wohl gingen die ortseingeborenen Leute ihren Beschäftigungen nach; die Fremden saßen wie gewöhnlich bei so gutem Wetter an ihren behaglichen Theetischen in Lauben und Vorgärten. Ihre hübschen geputzten Kinder fingen Ball und Reifen. Herren und Damen zu Wagen und zu Fuße, zu Esel und zu Roß, zogen thalauf, thalab unter den Alleen. Die Wagen der Hôtels rollten mit neuen Gästen vom Bahnhofe daher, wo die Lokomotive ihre schrille Stimme weithin in die Berge ertönen ließ. Aber selbst dem alten abgehärteten Landarzt und behaglichen Badedoktor war es doch, als ob dieses Alles nicht sei und nur die schmächtige, schweigsame Gestalt im grauen nonnenhaften Kleide an seiner Seite wirkliches Dasein und wahrhaftige Bedeutung in diesem farbigen Schein und Getümmel habe.

Fast eine Stunde hatten Doktor Hanff und Phöbe Hahnemeyer zu gehen, ehe sie die letzten Häuser und Hütten der Ortschaft erreichten. Wie der weltbekannt gewordene Platz an allem, was Menschen für herrlich und wünschenswerth halten, zugenommen haben mochte, bis in diese Gegend war von seiner Eleganz und seinem Luxus noch nichts gedrungen. Wo die Bewohner der letzten vereinzelten Hütten für das ihnen noch immer unbegreifliche exotische Leben und Treiben nur ein stupides Hinstarren haben, steht noch das Haus, das vor zehn Jahren die Apotheke „Zum wilden Mann“ war. Dreißig Jahre lebte in ihr der gutmüthige Philipp Kristeller als glücklicher Besitzer und gedachte in Dankbarkeit eines Jugendfreundes, der ihm das Geld geschenkt hatte, mit dem er die Apotheke erworben. Dreißig Jahre haben er und seine Schwester Dorothea in dankbarer Erinnerung ihres Wohlthäters gedacht, bis dieser plötzlich als Oberst Dom Agostin Agonista aus Brasilien zurückkehrte und seinem lieben Freunde das geschenkte Geld mit Zinsen abnahm, sodaß der gute Philipp und Fräulein Dorette auf ihre alten Tage mittellos wurden.

Das Haus steht noch, es ist jedoch nicht mehr eine Apotheke und zwar die Apotheke für ein halb Dutzend gesunde Dörfer im Umkreis von vier bis fünf Meilen. Die jetzige Officin führt in der Nähe des Promenadenplatzes und großen Springbrunnens eine gedeihlichere Existenz und hat auch das alte Schild und Zeichen nicht festgehalten. Das Haus ist, seit Dom Agostin Agonista zu Gaste darin war, in wechselnden Händen gewesen und sieht recht verwahrlost und verkommen aus. Es liegt ja auch für jedwedes nahrhafte Geschäft viel zu weit ab vom Brennpunkt des neuen Lebens, das hier sonst über Alles gekommen ist. Ein Gemüsegärtner scheint es heute im Besitz und wenig Mittel für seine Instandhaltung oder gar seine äußerliche Wohlanständigkeit zu haben. Doch das geht uns nichts an. Ein Seitenpfad führt von der Landstraße an seiner Gartenmauer her, noch immer ins offene Feld, und auf diesem Wege schreiten wir jetzt rascher mit Phöbe und dem Doktor Hanff zu dem alten nun „auf den Abbruch stehenden“ Spittel des früheren Dorfes und jetzigen großen berühmten Kurorts.

Die lautesten Töne der Bückeburger Jägermusik vor dem großen Pavillon sind längst verhallt. Der Weizen steht rundum in Stiegen auf den Feldern, die Grillen zirpen in den Stoppeln; grünglänzende Goldlaufkäfer haben es wie immer eilig vor unsern Füßen, und die Gattung Aphodius ist schwerfällig und gemächlich thätig in ihrem nützlichen Geschäft auf den Pfaden der Erde wie im Anfang. Die Lerche singt in der blauen Abendluft und kümmert sich gar nicht, daß die Sense wieder über ein leeres Nest in der Ackerfurche hingefahren ist. –

„Sehen Sie nur, wie hübsch das Ding da liegt,“ brummte Doktor Eberhard Hanff. „Es giebt in dieser Hinsicht dem Fuchsbau auf der Vierlingswiese wenig nach. Und auch in anderer Beziehung nicht, nämlich, wie schon gesagt, was die Möglichkeiten des Gesundungsprocesses unseres braven Freundes anbetrifft. Es war Verständniß in seinem Willen, als er kurzab in seiner letzten lichten Minute nach der Hütte der Fee verlangte. Auch deßhalb habe ich ihm mit Vergnügen diesen seinen Willen gethan. Sehen Sie, ich habe ihm auch noch ein paar Fensterscheiben eingeschlagen, für angenehmste Undichtigkeit der Wände garantirte die Gemeinde schon seit Jahren. Im bestgelüfteten Krankensalon kann’s Niemand besser haben; und was die zärtliche Familiensorge angeht, na gucken Sie, da sitzt Fräulein Dorette in ziemlicher Ruhe mit ihrem Strickzeuge auf der Thürbank. Kein übel Anzeichen für einen alten Praktikus, der noch dazu seit langen Jahren

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_576.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)