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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

die Ehre hat, die liebe alte Dame zu seinen intimen Freundinnen zu zählen. Auch eine von den Kolleginnen, Fräulein Hahnemeyer, wie sie sich Unsereiner, mit seinen sämmtlichen Barbier- und Geburtshelferdiplomen in schönster Ordnung, und all seiner Anwartschaft auf ein künftiges unausbleibliches Sanitätsrathpatent, gar nicht besser wünschen kann. Guten Abend, Fräulein Kristeller. Nun, wie steht’s da hinter Ihnen? Ja, wundern Sie sich nur, ich bringe Ihnen Gesellschaft, die beste Gesellschaft der Welt.“

Einigermaßen verwundert schob das alte Jüngferchen auf der Bank vor dem Dorfspittel die Brille auf die Stirn und legte das Strickzeug im Schoße zusammen, beim Näherkommen der Beiden und beim Erkennen des jungen Mädchens mit seinem Bündel Wäsche im weißen Tuch.

Wie sie sich erhob von ihrem Sitz und dem alten Hausfreund Hanff und seiner Begleiterin entgegentrat, war das derselbe Schritt wie der, mit welchem sie einst in der Apotheke „Zum wilden Mann“ überall war. Und die Stimme, mit welcher sie den Gruß des Doktors erwiderte, war auch noch die nämliche. Sie hatte sich ausgezeichnet gut gehalten – Fräulein Dorette Kristeller aus der bankerotten Apotheke „Zum wilden Mann“! …

„Aber, Kind? Phöbe?!“ rief sie erst; und dann, sich an den Landphysikus wendend, sagte sie: „Ganz ruhig und gelassen den Umständen nach. Ich höre ihn von hier aus eben so gut als wie bei ihm da drinnen; und es sitzt sich hier draußen doch ein bischen besser mit der Natur um sich her und dem Blick ins Freie. Sie haben doch nichts dagegen einzuwenden, Doktor?“

„Nicht das Geringste,“ brummte Doktor Hanff. „Da könnte ich meinestheils Sie doch viel eher fragen, Fräulein Dorette, ob Sie nichts gegen mich und mein Eingreifen in Ihre Praxis einzuwenden hätten? Vor allen Dingen aber: was sagen Sie hierzu?“

Er deutete bei den letzten Worten auf seine Begleiterin.

„Lieber Gott, Hanff, erst müssen Sie mir doch sagen, was das zu bedeuten hat. Sie wollen doch nicht gar das liebe Fräulein mir und meines seligen Bruders altem Friedrich hier zur Hilfe geben?“

„Ich sicherlich nicht!“ rief der Doktor. „Es wäre mir im Gegentheil äußerst angenehm, wenn Sie das Kind noch bewegen könnten, Vernunft anzunehmen. Ich habe sogar meine letzte Hoffnung in dieser Hinsicht auf Sie gesetzt, Fräulein Kristeller. Reden Sie nur tüchtig auf sie drein! Da, setzen Sie sich wenigstens noch einen Moment hier auf die Bank zu Fräulein Dorette, Fräulein Phöbe, während ich mir unsern interessanten Patienten da drinnen noch ’mal ansehe. Lassen Sie sich genau berichten, Fräulein Kristeller, was die liebe Seele aus den Bergen zu uns herunter bringt, was sie hier will und was sie für Recht hält! Sprechen Sie Vernunft, Vernunft – Vernunft zu ihr, Fräulein Dorothea Kristeller aus der Apotheke zum wilden Mann. Rufen Sie sofort, wenn Sie die Kleine so weit haben, daß sie sich von mir wieder nach Hause zurückbegleiten läßt. Ist Freund Fritze da drin bei unserm Mann?“

„Nein; er ist mit dem Korbe ins Bad hinauf.“

„Auch gut“, rief Doktor Hanff. „Legen Sie Ihr Bündel ab, Phöbe; setzen Sie sich nur noch einen Augenblick da zu Fräulein Kristeller auf die Bank, schütten Sie Ihr Herz aus und hören Sie Vernunft, Vernunft – Vernunft!“

Er trat in das Haus, und die hinterbliebene alte Schwester des alten Philipp Kristeller, Fräulein Dorette Kristeller, aus der Apotheke zum wilden Mann, faßte die junge Schwester aus Schmerzhausen in die Arme und rief:

„Kind, Kind, was ist denn das? was soll dies bedeuten? Du mußt mir freilich ganz genau erzählen, was dieses zu bedeuten hat!“

„O wie gut ist dies!“ schluchzte Phöbe Hahnemeyer. „Er hat mir nicht gesagt, der Herr Doktor, daß ich Sie hier finden würde; er hat wohl nicht daran gedacht, welchen Trost er mir geben konnte. Aber Gott der Herr hat immer Mitleid mit uns in unserer Angst und waltet in Barmherzigkeit. O, nun bin ich so ruhig, und ich will Ihnen gewiß Alles ganz genau sagen, und Sie werden nicht schelten und den unruhigen Gast wieder nach Hause schicken!

(Fortsetzung folgt.) 


Um zehn Pfennig.

Eine Hamburger Skizze von I. Frapan.

Es war im Frühsommer; die Straßen hatten das eigenthümlich sonntäglich-feierliche Aussehn, das sie immer haben, wenn die Pflastersteine vom Regen gespült und die Pfützen wieder aufgetrocknet sind. Von der Englischen Planke herunter wehte der Duft von blühenden Syringen, und unten am Hohlen Weg, wo derselbe in den Scharmarkt mündet, stand oder kauerte ein ganzer Haufen kleiner Knirpse um eine Anlage aus weißem Sand, die erste diesjährige „Ehrenpforte“. Grüne Zweige und dicke rothe Marmelblumen waren schon ringsum eingepflanzt, Lichtstümpfchen staken schon hier und da, aber noch viel mehr waren nöthig, und einer der kleinsten Jungen, ein weißhaariger stämmiger Kegel in blauweißem Leinenanzug, hatte das Amt, sich den Vorübergehenden in den Weg zu stellen und mit abgezogener Mütze Pfennige für die Ehrenpforte einzukassiren. Das war der Hamburger Kinder Recht und alter Brauch, der sich von Gott weiß welcher Festlichkeit erhalten haben mochte, und das „Sammeln“ geschah nicht etwa demüthig und bittweise, sondern mit sicher und keck in die Höhe gerichteter Stumpfnase. Nur die Fremden pflegen auf dies Ansinnen mit einem verwunderten Gesicht zu antworten und sich rechts und links nach der „Ehrenpforte“ umzusehen, wobei natürlich der bescheidene Maulwurfshaufen zu ihren Füßen ihren Blicken völlig entgeht. Ist aber der „Angesammelte“ ein Hamburger, so weiß er sogleich, um was es sich handelt; lächelnd fügt er sich dem geheiligten Brauch, zieht seinen Beitrag hervor und denkt der Zeit, da er selber Ehrenpforten baute.

Der da jetzt den abschüssigen Hohlen Weg herunterkam, hatte früher auch welche gebaut, es war aber schon ein paar Jährchen her. Es war ein älterer Mann, dick, kurzbeinig, mit breitem rothen Gesicht, in dem ein beständiges Lachen zuckte. Der schmale schwarzgraue Bartrand, der einzig dem Rasirmesser entgangen, sträubte und glättete sich abwechselnd. Aber er lachte in sich hinein, nicht über die Jungen, von denen er noch ein gutes Stück entfernt war. Das Lachen zog ihm manchmal so stark in die Beine, daß er sich an einem Beischlag festhalten mußte, um nicht hinzutorkeln. „So’n bannigen Witz“ hatte er lange nicht gehört, und die alten pensionirten Droschkenkutscher lieben bannige Witze zu ihrem Grog. Der Grog war auch steif und heiß gewesen; er war ihm noch süß auf der Zunge, und der Magen so angenehm warm und der Kopf beinah zu warm. Er nahm den etwas beuligen schwarzen Cylinder ab, fuhr sich mit dem rothen Taschentuch über den großen Schädel, der in der Mitte nackt und weiß wie eine Hand war, und drehte und striegelte dann den Hut mit seinen Händen. Dann lachte er wieder, daß die dicke goldene Uhrkette auf seiner bunten Sammetweste tanzte. So kam er in kleinen Absätzen, bald vorsichtig tappend, bald mit übereiltem Stolpern, die kleinen Ritzaugen fast zugekniffen, aber den Blick durch den Liderspalt immer auf den Hut geheftet, vollends die Straße herunter. Ehe er sich’s versah, stand der kleine Blauleinene vor ihm: „Wird gesammelt für die Ehrenpoort!“ – erscholl es plötzlich, daß der vergnügte Mann schier zurückfuhr. Der Hut entfiel seinen Händen, und bei dem unsichern Bücken danach schwoll sein Gesicht blauroth an, die Finger spreizten sich und tasteten nach einem Halt, bis sie sich zuletzt väterlich zärtlich um den Kopf des kleinen Jungen schlossen. Aber nur einen Augenblick; der „Krabauter“ schüttelte ihn trotzig ab.

„Wird gesammelt für die Ehrenpoort,“ wiederholte er. Der Mann stand schon wieder fest, aber das Experiment mit dem Hutaufheben durfte er nicht noch einmal wagen. Ein leuchtender Gedanke fuhr ihm durch den nebligen Kopf.

„Mit de paar Kröten kann min Ohlsch doch nix mehr anfangen,“ brummte er in sich hinein.

„Jung! Jungens!“ schrie er dann laut, „weet Ji wat? Ick will Ju teihn Penn’ in de Grabbel smieten, un wer se kriegt, de langt mi dafor min Hoot wedder her.“

„Hurrah,“ antworteten die Kinder, „he smitt teihn Penn’ in de Grabbel! Fix, Jungens, fix!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_578.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2024)