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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Schultern und brachte uns in die Wirklichkeit zurück, wenn wir einander gar zu tief in die Augen guckten und darin ein Wunderland voller seliger Zustände erblickten. Ja, unsere Augen sprachen, während der Mund stumm blieb … Du lachst, holde Leserin … Du warst wohl noch nie verlieht? … Wie schade! … Dann bist Du auch noch nie glücklich gewesen … Und dann fanden wir auch Abbott und Jone. Wir geriethen auf eine Anhöhe, von der man einen weiten Blick über die vorliegenden, mit Wein- und Melonenpflanzungen bedeckten Gelände bis an den fernen Silberstreif des am Ufer brandenden Marmara-Meeres hatte. Dort saßen, wie wir in die Ferne blickend, Hand in Hand Jone und Abbott; Zacharula wollte sie rufen, aber ich wehrte ihr, faßte sie bei der Hand und sagte ihr – ich weiß nicht zum wievielten Male an diesem Tage – daß ich sie mehr liebe als mein Leben; in den weichsten Tönen, deren mein biegsames Sprachorgan fähig war, sagte ich ihr das – und sie senkte das Köpfchen und entgegnete etwas, das ich wieder nicht verstand, wenn ich auch den Sinn aus ihren flammenden Wangen und dem leisen Drucke ihrer Hand errathen konnte. Wir blickten uns abermals tief, tief in die Augen, dann hörten wir den Ruf: „Jone! Jone!“ wir stimmten mit ein, und der schönste Augenblick dieses köstlich sonnigen Tages war vorüber. – –

Mr. Abbott und ich waren ein Paar sehr langweilige Gesellschafter, als wir an jenem denkwürdigen Abend heimritten; ein jeder von uns hing seinen verliebten Gedanken nach, und als wir uns trennten, zeigte doch der verständnißinnige Händedruck, den wir tauschten, daß wir trotzdem uns ganz vortrefflich unterhalten zu haben glaubten.

Die nächste Zeit sah ich mein herziges Kind jeden Tag; ich sprach entweder in ihrem elterlichen Hause vor oder sie kam auf ein Viertelstündchen zu meiner Kokona heraufgesprungen. Die munteren Tuchfärberinnen hatten unser Geheimniß natürlich bald errathen, aber über diesen Kreis drang es nicht hinaus, und die kleinen Anspielungen, die wir darüber zu hören bekamen, waren so harmlos und liebenswürdig, daß ich in späteren Jahren oft und immer wieder in den Kreisen fein gebildeter Europäerinnen sehnsüchtig an jene armen, unwissenden Naturkinder und ihre neidlose Treuherzigkeit zurückdenken mußte.

So verlief noch eine Woche. Da kam eines Tages Zacharula ganz athemlos herüber, um eine Neuigkeit anzukündigen. Der englische Konsul war nach Paris versetzt und Jone seine Braut geworden. Sie würde bald heirathen und als seine Frau ihm dorthin folgen, berichtete die Kleine, aufs Lebhafteste interessirt.

Natürlich mußte ich da gratuliren, und zwar sogleich. Ich nahm Hut und Stock, um Zacharula nach ihrem Heim zu begleiten. Langsam schritten wir die alte knarrende Holzstiegc hinab. Es herrschte selbst am hellen Tage in dem alten Treppenhause eine dichte Dämmerung, nur durch eine der Dachluken fiel ein breiter Streifen Sonnengold und umwob meinen Liebling mit einem flimmernden Glorienscheine. Das dunkle Köpfchen hob sich von dem lichten Sonnenstreifen, der in der dämmernden Umgebung doppelt reizvoll wirkte, wie eins der auf Goldgrund gemalten Bilder der alten Meister ab. Mit leidenschaftlicher Bewunderung hing mein Auge an meiner lieblichen Begleiterin … ich legte leicht meinen Arm um ihre schlanke Gestalt und bat mit bebenden Lippen: „Kleine, süße Göttin meines Herzens, und wenn die Verdammniß über das Grab hinaus darauf stünde, ich muß Dich –“ aber ach – das griechische Wort für „küssen“ fiel mir leider nicht ein, und die kleine Eva wandte lachend ihr Köpfchen in dem schimmernden Sonnenstaube von mir ab, und frug spöttisch: „Ja, was denn?“

Anfangs schämte ich mich wie ein Schulbube, aber bald erkannte ich, daß ihre Frage Heuchelei und ihr Sträuben nicht ernst gemeint war, und als wir auf die helle Straße hinaus traten, wußten wir Beide, was die ersten heißen Küsse leidenschaftlicher Liebe zu bedeuten haben.

Was Wunder, daß es mir schwer wurde, mich gleich wieder in der öden Wirklichkeit zurecht zu finden? Und daß ich die mir vom Telegraphenboten, den wir beim Hinausstürmen fast umrannten, überbrachte Botschaft erst eine Weile mit unweisem Lächeln anstarrte, bevor ich sie begriff? Sie war, wie der Engel mit dem feurigen Schwert, gekommen, um mich aus meinem eben errungenen Paradiese zu vertreiben. In derselben hatte mein Vorgesetzter seine Verwunderung über die schleppende Erledigung der mir anvertrauten Frage in sehr ungnädiger und dem Wunsche, daß ich in drei Tagen damit zu Ende kommen möge, in so entschiedener Weise Ausdruck gegeben, daß ich wohl oder übel meinen Aufenthalt über diesen äußersten Termin hinaus nicht verlängern durfte. Ich konnte dem trauten Kreise, in den ich jetzt hinein trat, die schlimme Nachricht nicht verbergen. Jone sah Zacharula an, und die kleine Dunkelhaarige erbleichte, und ihre Lippen zuckten in so vielsagender Weise, daß dieser schlagende Beweis ihrer Gesinnung mir gegenüber ein Tropfen Trost in meinem Trübsalsmeer war. Sie ging hinaus, meine Kleine, um die Thränen zu verbergen, die das an Selbstbeherrschung nicht gewöhnte Naturkind zurückzuhalten unfähig war.

Als mein kleiner Liebling am letzten Tage schluchzend an meinem Halse hing, versprach sie mir, nie einem Andern anzugehören und meine kleine Frau zu werden, so bald ich sie zu holen käme. Bis dahin aber sollte ich sie im Bilde haben; und ich erhielt dieses Bild, mit dem aufgelösten Haar noch dazu, wie ich sie zum ersten Male gesehen und liebgewonnen hatte, das herzige Ding.

Es hängt heute noch über meinem Schreibtische, das kleine, verblichene Bild, und ich kann es nicht ansehen, ohne einen stechenden Schmerz im Herzen zu empfinden.

Zwei Jahre vergingen. Meine Zacharula schrieb fleißig, und jeder ihrer Briefe hatte in meinen Händen das Schicksal, welches diese zarten Liebesboten von Thoren meiner Art zu erleiden pflegen. Ihre Orthographie war schlechter als ihre Gesinnung, aber sie machte mir nach und nach doch Kummer, diese Orthographie.

Daß ich meine kleine Göttin noch ebenso zärtlich liebte, als da ich die Idylle ihrer Heimath mit ihr theilte, unterlag keinem Zweifel, und wenn es mir vergönnt gewesen wäre, mein ganzes Leben lang unter den Nußbäumen ihres väterlichen Gartens, ein glücklicher Adam, mit ihr als Eva, in einer Hütte von Baumrinde zu leben, ich würde dieses Loos nicht um alle Kronen der Welt ausgetauscht haben, ich würde nichts an dem herzigen Kinde vermißt, und die Orthographie ihrer Briefe würde mir ebenso wenig Kummer gemacht haben, wie der etwas absonderliche Stil und die naiven Ansichten über Welt und Menschen, die mein Herzensliebling bisweilen aussprach. Aber leider lebte ich in einer Welt, die für die Reize einer Zacharula absolut kein Verständniß hatte und sehr viel auf den äüßern Schein, auf feinen Schliff und Umgangsformen gab. Wenn ich mir vorstellte, daß meine Kleine auf einer Soirée der Gräfin Baldrück erscheinen oder an einem Zauberfeste der X.’schen „Gesandtin“, der Diamantenkönigin, theilnehmen sollte, dann überlief es mich heiß und kalt. Ich sagte mir mit grausamer Ehrlichkeit, daß diese Damen und alles, was zu ihnen gehörte, für die Heldin einer Rosegger’schen Novelle sich zwar begeistern, dasselbe Naturkind aber, wenn es in Wirklichkeit aus den Blättern einer Dorfgeschichte heraussteigen und sich in das schillernde Leben der „Gesellschaft“ mischen wollte, leicht – auslachen könnten. Bei diesem Gedanken angekommen, der sich mir mit merkwürdiger Zähigkeit besonders dann aufdrängte, wenn ich selbst in steifer Hoftoilette mitten in dem bunten Treiben der großen Welt steckte, zog ich stets mein Taschentuch und begann mir den Schweiß von der Stirn zu trocknen.

Ich war so stolz auf meinen kleinen Liebling, ich würdigte gewiß alle ihre Vorzüge, die mir tausend Mal mehr galten als die leeren Formen der „Gesellschaft“, in die ich sie einführen mußte; aber ich sagte mir auch, daß ich nicht gegen den Strom schwimmen könne; ich unterschätzte die tausend Nadelstiche nicht, die meiner warteten, ich überschätzte auch mich nicht; ich wußte leider, daß ich einen tüchtigen Hieb und Stoß geschickt pariren, aber an diesen Nadelstichen zu Grunde gehen würde. Dafür sorgte schon meine Eitelkeit.

Ach, ich wäre so sehrgern in jeder Hinsicht stolz auf mein Weibchen gewesen. …

Ich beschloß denn, sie mir zu „ziehen“, und begann in meinen Briefen nach und nach einen belehrenden Ton anzuschlagen, so gleichsam brieflich Unterricht zu ertheilen – aber da kam ich schön an! Sie lachte mich einfach aus; frug, warum ich plötzlich so langweilig schreibe, bald wie ein alter Schulmeister, bald ernst und feierlich wie ein Richter. Die früheren lustigen Briefe seien ihr lieber gewesen. Wo doch die tausend Liebesworte von sonst blieben? Sie seien mir wohl in der Feder stecken geblieben oder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_640.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)