Seite:Die Gartenlaube (1885) 670.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Du doch nicht aussprechen können, oder wenigstens nicht ganz richtig; und der Ungar hat ein hoch entwickeltes Sprachgefühl; wenn ich in der Aussprache des Ungarischen einen Fehler mache, dann lacht mich der gemeine Mann aus, und der Vornehme unterläßt es niemals, mich in höflicher und schonender Weise zu belehren, indem er die betreffenden Worte mit einigem Nachdruck wiederholt, und zwar richtig.

Um also alle diese Schwierigkeiten zu vermeiden, übersetze ich das Wort gleich in das Deutsche. Es heißt Linden-Grund oder Linden-Bette, und zwar mit gutem Grund. Einer der früheren Besitzer, die einem glorreichen Grafengeschlecht angehörten, hat überall in der ganzen Herrschaft, in den Waldungen, in den Gründen und in den Schluchten, längs der Wege und Triften, einen Lieblingsbaum angepflanzt. Es ist eine edele, hohe, weitästige Linde mit eigenthümlichen großen Blättern, die auf der einen Seite eine dunkelgrüne und auf der andern eine silberne Farbe zeigen und, je nachdem die Blätter stehen oder hängen, und je nachdem der Wind sie bewegt, entweder diese oder jene Farbe zeigen, oder beide gleichzeitig in kaleidoskopischer Abwechselung uns vor die Augen führen. Es ist ein wahrer Hochgenuß für einen Unglücklichen, der das ganze Jahr durch verurtheilt ist, in dem Ruß und dem Schmutz einer großen Stadt zu leben, hier in dieser schönen Einsamkeit und in dieser frischen gleichmäßigen, windbewegten Luft unter dem wechselnden grünen und silbernen Glanze dieser Riesenbäume zu bummeln, mit nichts beschäftigt, als mit dem Studium einer Natur, welche allen Reiz der Wildniß und alle Wohlthaten der Kultur mit einander vereinigt.

Sogar der wandernde Zigeuner schien dies zu empfinden. Er ist in Ungarn zahlreicher als in andern europäischen Ländern. Denn der Ungar ist gutmüthig und weit entfernt, stets bei der ersten kleinen Unbequemlichkeit die Polizei zu Hilfe zu rufen. Er behandelt den Zigeuner besser, als wir, oder sagen wir lieber, um nicht zu viel zu sagen: weniger schlecht. Und auch beim Zigeuner finden wir dieselbe Erscheinung, wie bei den Thieren, welche in Gesellschaft der Menschen zu leben pflegen. Behandelt man sie gut, dann sind sie gut und vernünftig; behandelt man sie schlecht, dann sind sie dumm und boshaft. In Deutschland, wo der Zigeuner gehetzt und von einem Lande in das andere gejagt wird, pflegt er zu betrügen, zu stehlen und andere kulturfeindliche Künste zu treiben. In Ungarn macht er sich nützlich, – nach Kräften. Er ist das subsidiäre Geschöpf, das heißt: er übernimmt diejenigen Verrichtungen, welche die in besserer Lage befindlichen Menschen verschmähen. Er flickt die Hosen und Stiefel, welche die Andern, die deutschen oder die ungarischen Meister, gemacht haben. Er begleitet zu Fuß den Reiter, um das Pferd zu besorgen, und leistet alle möglichen untergeordneten Dienste. Den Kegeljungen spielt er mit Vergnügen, selbst wenn er längst über die Zeit der Jugend hinaus ist. Er macht, ohne jemals eine Note kennen gelernt zu haben, jene berauschende Musik, die seit einigen Jahren die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich gelenkt, deren größte Virtuosen Rácz Pál und Berkes János waren, und deren Verständniß Franz Liszt auch dem verwöhnten und verbildeten westeuropäischen Ohre eröffnet.

Der Zigeuner führt aber nicht nur die Geige, sondern auch das Schnitzmesser. Er geht mit Löffeln und anderen nützlichen Instrumenten, die er aus Holz schnitzt, hausiren.

Hierher, nach der Herrschaft „Linden-Grund“, wälzte sich eines Tages eine Zigeuner-Karavane. Ihr Häuptling, den man mit dem polnischen Namen „Woiwode“ bezeichnet, begab sich direkt nach dem Herrschaftshaus, welches man auf Oesterreichisch das „G’schloß“ (Schloß) und auf Ungarisch das „Kastell“ zu nennen pflegt. Was wollen diese Stiefkinder des Glücks in dem vornehmen Landsitz der Herrschaft? Dies Mal nichts Schlimmes. Weder betteln noch stehlen, sondern nur für gutes ehrliches Geld ein paar dieser schönen großen Silberlinden erwerben. Man giebt ihnen einige ab. Nicht aus den prachtvollen Alleen, welche unversehrt bleiben müssen; denn sie bilden den Stolz und die Zierde der Herrschaft. Aber da unten in dem einsamen Grunde, welcher sich zwischen zwei jener wellenförmigen Hügelzüge, die der Gegend ihren Charakter geben, hinzieht, tritt man ihnen die Silberlinden ab. Da gründen die Zigeuner ihre Kolonien. Sie graben Löcher in die Erde und schlagen über jedem Loche ein Zelt auf. Das ist das Haus des Zigeuners. Er befindet sich so wohl darin, wie der Graf in seinem Kastell. Dann geht er an die Arbeit. Er fällt die prachtvollen Bäume, die er ehrlich bezahlt hat. Und dann schnitzt er alles Mögliche aus denselben. Am liebsten große Mulden für Bäcker und Fleischer. Aus dem kleinen Abgefälle werden dann große dreizackige hölzerne Heugabeln, welche leichter sind und besser packen als die schweren aus Eisen, oder Schaufeln, oder Rechen, oder Löffel und anderes Küchengeräth. Sind die erkauften Baumriesen in solche kleine Menschengeräthe verwandelt, dann zieht der Zigeunertrupp weiter, nachdem er seine Zelte abgebrochen und die Löcher, worüber er dieselben errichtet, wieder zugeworfen hat. Zuerst verschwinden die Bäume, und dann der Zigeuner. Wir wünschen dem Zigeuner alles Gute auf die Reise. Aber wir sind froh, wenn er nicht wieder kommt und wenn ihm die Herrschaft keine Silberlinden mehr opfert. Es ist ein schöner Weg von Szigetvár nach dem Kastell von Lindengrund, den wir in einem leichten Wagen, gezogen von raschen Pferden, in einer guten Stunde zurücklegen. Notabene: im Sommer, wo der Weg hart ist. Im Winter oder zur Regenzeit ist der Weg grundlos. Da braucht man vier Stunden statt eine. Der Weg führt vorüber an endlosen Feldern. Die Getreidefelder sind schon leer, nur hin und wieder ist man mit dem Einbringen des letzten Hafers beschäftigt. (In Ungarn habe ich die Beobachtung gemacht, daß der Magyar und der Deutsche mit der Sense mähen, der Slave und der Walache dagegen mit der Sichel arbeitet, indem er mit der linken Hand hält und mit der Rechten, die Sichel führend, schneidet.) Auf der andern Seite des Weges stehen endlose Mais- oder wie man hier sagt: „Kukurutz“-Felder. Sie sind üppig in die Höhe geschossen; der Stock zeigt den Ansatz zu zwei, drei oder gar noch mehr Kolben; aber damit die Kolben sich runden und füllen, bedarf es noch Regen, nach welchem alle Welt schreit. Ungarn ist das Land der unvermittelten Extreme, der seltsamen Gegensätze. Entweder hat es zu viel oder zu wenig. Das gilt auch vom Wetter und von dem Regen. Man kann diesem Wetter nicht trauen, wie unserem gemüthlichen, langsamen, soliden, deutschen Wetter. Hier kommt alles plötzlich, stoßweise, explosiv. Hier kann man die Ernte nicht behaglich und in aller Ruhe nach und nach einheimsen. In vierzehn Tagen muß alles fertig sein. Après ça le déluge. Und hier ist die Sündfluth keine Redensart, sondern eine Wahrheit. Entweder ist des Wassers zu viel oder zu wenig. Hier ist Dürre, dort ist Überschwemmung. Man wendet alle Kraft und alle Mittel an, um diese Sprünge der Natur durch Menschenwerk und Menschenkünste auszugleichen oder zu mildern. Aber oft ist diese ungestüme, vollkräftige, unerschöpfliche, ich möchte fast sagen: vulkanische Natur mächtiger als die Menschen.

Hier in dem Barányer, dem Tolnaer und dem Samogy-Komitat, worin wir uns befinden, ist zwar das Alles viel besser als da unten, wo eine furchtbare Dürre oder eine Wassersnoth mit einander abwechseln. Ich habe im Banat große klafterlange Spalten oder Klüfte in dem von der Hitze zerrissenen Boden gesehen, und an der Theiß, von der man – allerdings mit einiger Uebertreibung – sagt, daß sie mehr Fische habe als Wasser, habe ich erlebt, daß unabsehbar weit ringsum Alles überschwemmt war. Wir Deutsche sagten: „Die Theiß ist groß.“ Unser Ungar aber sagte schmerzlich lächelnd: „O nein, sie ist zu klein, sie kann das viele Wasser nicht alles fassen.“

Die drei genannten Komitate – unser „Kastell Linden-Grund“ liegt im Komitat Samogy – bilden ein an Abwechselung reiches Bergland, das sich nach der Drau und Donau zu allmählich absenkt und nur kleinere Flüsse und Bäche aufweist. Es hat vielleicht einmal zu wenig Wasser, aber nie zu viel, und seine zahlreichen Wälder und Berge und Hügel schützen es vor jenem verheerenden Sonnenbrand, der das Land in Staub auflöst, oder zu einer Masse verhärtet, welche selbst dem schärfsten Pfluge Widerstand leistet. Nur zuweilen rauscht ein Wolkenbruch hernieder, der die muldenförmigen Terrainfalten in Seen verwandelt.

Auf dem Wege von Szigetvár nach unserem Kastelle, in welchem wir jenen ungarische Gastfreundschaft genießen, die man in keinem Lande Europas in gleicher taktvoller Herzlichkeit wieder findet, haben wir Gelegenheit, uns über die Kulturverhältnisse des Landes zu unterrichten und zugleich die verschiedenen Rassen zu studiren. Hier in diesem Lande, das man vormals die „schwäbische Türkei“ nannte – ein Ausdruck, der jedoch den gegenwärtigen Bewohnern ganz unbekannt zu sein scheint und der

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_670.jpg&oldid=- (Version vom 4.4.2024)