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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

reformirte Kirche zu Charenton niedergerissen. Nun waren die Hugenotten rechtlos, vogelfrei.

Die Ausübung des reformirten Kultus ward in ganz Frankreich untersagt und der Privatgottesdienst bei Todesstrafe und Güterkonfiskation verboten. Alle nicht von katholischen Geistlichen eingesegneten Ehen wurden für nichtig erklärt und die Kinder aus solchen gewaltsam in die Klöster gebracht. Dazu kam die harte Bestimmung, nach welcher die reformirten Prediger binnen 14 Tagen das Land verlassen, oder zwischen Bekehrung und Galeerenstrafe wählen sollten, das Auswandern der Protestanten selbst war aber bei lebenslänglicher Galeerenstrafe und Güterkonfiskation verboten. Den jedes Rechtsschutzes beraubten Unglücklichen blieb nur die Wahl zwischen Unterwerfung, heimlicher gefahrvoller Flucht bei Zurücklassung ihres ganzen Besitzes, oder Verfolgung und Tod. Die Grenzen, Meeresküsten und Häfen wurden auf das Schärfste bewacht, man zwang die Landleute, ihre Arbeit mit Häscherdiensten zu vertauschen; mit Hunden wurden die Flüchtlinge gehetzt. Das grausame Geschäft der Verfolgung wurde um so lieber betrieben, als für jeden Fang bei der Ketzerjagd eine Belohnung ausgesetzt war. Tausende und aber Tausende endeten ihr Leben auf dem Schaffot, in den Galeeren oder dumpfen Gefängnissen, wenn sie nicht als edles Wild an der Grenze niedergeschossen worden waren – ein Schrei der Entrüstung ging durch das ganze protestantische Europa.

Aber das Unrecht sollte nicht leichten Kaufes triumphiren, es sollte beschämt werden vor dem Richterstuhl der Weltgeschichte, durch eine That, die weit hinausleuchtet über Menschenalter und Jahrhunderte. Wenige Tage nach dem Widerruf des Ediktes von Nantes erschien am 29. Oktober 1685 ein anderes, das Edikt von Potsdam, durch welches der große Kurfürst den bedrängten Glaubensgenossen gastfrei seine Staaten öffnete.

Im Hinblick auf die mangelhaften Kommunikationsmittel jener Zeit erscheint es wunderbar, mit welcher Schnelligkeit dieser kurfürstliche Erlaß in ganz Europa bekannt wurde. Trotz aller Verbote und der von gegnerischer Seite ausgehenden Behauptung, das Potsdamer Edikt sei eine Fälschung, wurde es hauptsächlich von der Schweiz aus in vielen tausend gedruckten und geschriebenen Exemplaren durch Frankreich verbreitet, und von den Verfolgten zweifelte Niemand an seiner Echtheit.

Zur Kennzeichnung des Geistes, von welchem das Potsdamer Edikt beseelt ist, möge die Einleitung zu demselben hier Platz finden.

„Wir Friedrich Wilhelm,“ heißt es darin, „thun kund und zu wissen, nachdem die harten Verfolgungen und rigoureusen proceduren, womit man eine zeithero in dem Königreich Frankreich wider Unsere der Evangelisch-reformirten Religion zugethane Glaubens-Genossen verfahren, viel Familien veranlasse, ihren Stab zu versetzen, und aus selbigen Königreich in andere Lande sich zu begeben, daß wir dannenher aus gerechten Mitleiden, welches wir mit solchen Unsern, wegen des heiligen Evangelii und dessen reiner Lehre angefochtenen und bedrengten Glaubensgenossen billig haben müssen, bewogen werden, vermittels von Uns eigenhändig unterschriebenen Edickts denselben eine sichere und freye retraite in alle unsere Lande und Provincien in Gnaden zu offeriren, und ihnen daheneben kund zu thun, was für Gerechtigkeiten, Freyheiten und Praerogativen Wir ihnen zu concediren gnädigst gesonnen seyen, umb dadurch die große Noth und Trübsal womit es dem Allerhöchsten nach seinem allein weisen unerforschlichen Rath gefallen, einen so ansehnlichen Theil seiner Kirche heimzusuchen, auf einige Weise zu subleviren und erträglicher zu machen.“

Die „Gerechtigkeiten, Freyheiten und Prärogativen“, welche den Fremdlingen geboten wurden, waren so ungewöhnliche und reiche, daß die Brandenburger theilweise mit Neid und Mißgunst auf die französischen Einwanderer blickten, indeß hatte der edle Kurfürst in dem Edikt angeordnet, daß den Glaubensgenossen „Frantzösischer Nation nicht das geringste Uebel, Unrecht oder Verdruß zugefügt, sondern vielmehr im Gegentheil alle Hilfe, Freundschaft, Liebes und Gutes erwiesen werden solle.“

In Frankfurt am Main, Amsterdam und Hamburg waren auf Anordnung Friedrich Wilhelm’s allgemeine Sammelplätze eingerichtet, von wo man die Flüchtlinge weiter dirigirte. An der brandenburgischen Grenze wurden sie von besonders dazu ernannten Kommissaren in Empfang genommen und mit Allem versehen, was sie bis an den Ort ihrer künftigen Niederlassung bedurften. Sie erhielten „wüste Plätze“ mit allen dazu gehörigen Gärten, Wiesen, Aeckern und Weiden, „ruinirte Häuser“ und „Holz, Kalk und andere Materialen zur Reparirung“ und eine sechsjährige Befreiung von allen „Auflagen, Einquartierungen und andern oneribus publicis“. Es war ein glücklicher Gedanke des großen Kurfürsten, die 20000 in Brandenburg eingewanderten Franzosen nicht einzeln im Lande ansiedeln zu lassen, sondern sie zu Kolonien zu vereinigen; so entstanden deren in Königsberg in Preußen, Magdeburg, Brandenburg, Halle, Prenzlow, Frankfurt an der Oder, Stendal, Cleve und Wesel.

Berlin bildete den Sammel- und Durchzugspunkt aller dieser Unglücklichen, und oft drohte in Anbetracht der großen Bedürfnisse der Wohlthätigskeitssinn zu erlahmen, stets aber wurde er von Neuem angefacht durch die edle Gesinnung, mit welcher der große Kurfürst Trost und Hilfe zu spenden wußte. Als einmal Herr von Grumbkow dem Herrscher gegenüber die gänzliche Erschöpfung der Mittel und die Unmöglichkeit, neu angekommenen Réfugiés Hilfe zu gewähren, betonte, soll Friedrich Wilhelm die denkwürdigen Worte gesprochen haben: „Nun, dann möge man lieber mein Silberzeug verkaufen, ehe man diese armen Leute ohne Unterstützung läßt.“

Unter dem Schutze eines so hochherzigen Fürsten wuchs die kleine französische Gemeinde zu jener französischen Kolonie in Berlin heran, die alle ihre gleichnamigen Schwestern bald an Bedeutung überragte. Friedrich Wilhelm sollte es selbst nicht vergönnt sein, die goldenen Früchte dieser Saat zu ernten. Die von ihm Geretteten sollten erst seinen Nachfolgern den schuldigen Dank mit Thaten entrichten.

Welchen Einfluß die französischen Kolonien auf Kunst, Wissenschaft, Handel und Industrie in der durch den Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Mark ausgeübt haben, ist durch die Geschichte längst festgestellt. Friedrich der Große sagt in seinen „Denkwürdigkeiten“: „Sie (die Hugenotten) halfen unsere verödeten Städte wieder bevölkern und verschafften uns die Manufakturen, welche uns mangelten“, und in einem Briefe des großen Königs an d’Alembert vom Jahre 1770 heißt es: „Erlauben Sie mir über den Widerruf des Ediktes von Nantes anders zu denken als Sie; ich danke Ludwig XIV. sehr dafür und würde seinem Enkel sehr danken, wenn er es ebenso machte.“

Diese Worte des weit hinausschauenden Staatsmannes können wir heute noch durch viele kleine kulturhistorische Züge bekräftigen, in denen sich der gute Einfluß der Eingewanderten widerspiegelt. Die damaligen Réfugiés sind keineswegs mit den französischen Emigranten auf gleiche Stufe zu stellen, die nach dem Sturze des bourbonischen Thrones hundert Jahre später Deutschland überschwemmten. Diese waren von der Verderbniß des Pariser Hofes und der Sittenfäulniß der höheren Klassen angekränkelt, jene aber waren ernste Männer, die um ihrer Ueberzeugung willen Noth und Leid im Leben, dabei aber Zucht und Sitte im Herzen trugen.

Die Herren und Damen aus besseren Familien, die lange noch ihre eigenartige Tracht beibehielten, waren gern am Hofe und in der vornehmen Gesellschaft gesehen und nahmen bald hohe Stellungen ein, während die Handwerker und Landbauer an vielen Orten neue Industrien, Gemüsezucht etc. ins Leben riefen.

Die französische Lieblingsspeise, die Suppe, war damals in der Mark, wo man stets Bier trank, so gut wie unbekannt; die Réfugiés haben ihr unter den Berlinern das Bürgerrecht verschafft. Sie führten auch das Weißbrot, das oft noch Franzbrot genannt wird, ein, und lange Zeit waren die kleinen Würste (saucisses, Saucißchen) beliebt, die ein Réfugié Braconnier fabricirte, während die Blutwürste zuerst „Französische Würste“ hießen. Die alte Dame Foucaut konnte sich später rühmen, die Hoftafel unter drei Regierungen mit frischen französischen Leberwürsten versorgt zu haben. Die französischen Kolonisten gründeten auch ein früher in Berlin unbekanntes Gewerbe, Speisewirthschaften, in denen stets verschiedene Braten, Geflügel und Wildpret fertig gehalten wurden, und wirkten reformirend auf die noch im Argen darniederliegenden Gasthöfe ein, indem sie z. B. zur Gründung des seiner Zeit berühmten Hôtels „Die Stadt Paris“ in der Brüderstraße Veranlassung gaben.

Getragen von dem Wohlwollen aller brandenburgischen Fürsten, gefestigt durch unzerreißbare Bande innerer Zusammengehörigkeit ist die französische Kolonie im Laufe zweier Jahrhunderte zu einem kräftigen mächtigen Baume herangewachsen, dessen Aeste und Zweige wegen der stattgefundenen Vermischung der Nationalitäten zwar nicht mehr den ausgeprägten ursprünglichen Typus zeigen, der aber noch lebenskräftig genug ist, viele Generationen in seinen Schatten zu nehmen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_678.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2022)