Seite:Die Gartenlaube (1885) 724.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

hilfsbereiter Thätigkeit, so löst sich der Druck, und unser Glück wurzelt sich fester in dem Bewußtsein wohlbethätigter Nächstenliebe.

Immer mehr Frauen empfinden dies und handeln danach. Sie begnügen sich nicht mit den zufälligen Gelegenheiten zum Wohlthun, welche ihr eigener Lebenskreis ihnen eröffnet, sondern suchen in allerhand Vereinen die stets bereite öffentliche Gelegenheit auf. Solcher Frauenvereine giebt es in manchen unserer älteren, reicheren und durch bürgerlichen Gemeinsinn hervorragenden Städte schon seit den Befreiungskriegen, und die Einheitskriege von 1864, 1866, 1870 und 1871 haben neue hinzugefügt in den Vaterländischen Frauenvereinen und ihres Gleichen. Sie erziehen ihre Mitglieder zu einer vernünftigeren, edleren und wirksameren Wohlthätigkeit, als blindlings ausgestreute Geld- und Werthgaben sind. Aber in ihrer Vereinzelung und unumschränkten Selbständigkeit sind auch diese Vereine noch der Gefahr einer zweckwidrigen Vergeudung ihrer Wohlthaten ausgesetzt, weil sie da nicht durchgehends zuverlässig übersehen können, ob ihre Pfleglinge nicht schon anderweitig unterstützt, also auch nicht wahrhaft bedürftig und in so fern würdig der Hilfe sind.

Dies hat städtische Armenbehörden schon oft über die wohlthätigen Frauenvereine seufzen lassen. Sie sehen sich durch das Gesetz gezwungen, alle Hilfsbedürftigen des Ortes zu unterstützen; wenn nun aber ihre Pfleglinge obendrein noch von diesem oder jenem Verein weniger wohlbedachte und wohlbemessene Gaben empfingen, oder wenn durch Vereinswohlthaten Leute ohne Noth verwöhnt und zu dauernder Hilfsbedürftigkeit hinabgedrückt wurden, so wuchs vor ihren sorgenden Augen die Last der Stadt ins Unerschwingliche. Ohne weder den Damen der Vereine ihre Freude am Helfen noch den Vereinspfleglingen schlechthin jede Unterstützung über das strenge städtische Maß hinaus zu mißgönnen, erschien ihnen dieses Wohlthun doch häufig als eine künstliche Beförderung der Noth, welcher es abhelfen wollte, als eine schwere Störung des Erziehungswerks, das sie an den noch erwerbsfähigen Armen des Orts zu vollbringen hatten, und als eine Pflege schmarotzerhaft wuchernden Unkrauts.

Wachsame, entschlossene Armenbehörden haben deßhalb die Frauenvereinsthätigkeit in feste Verbindung mit sich selbst zu setzen getrachtet. Vaterländische Frauenvereine oder einzelne hochgesinnte Frauen sind ihnen ihrerseits dazu entgegengegangen. Verschiedene Formen solchen geregelten und glücklichen Zusammenwirkens kamen in der Wanderversammlung deutscher Armenpfleger zur Sprache, als sie dieses Jahr am 16. und 17. September in Bremen tagte.

Es traf sich vor fünf oder sechs Jahren in Stettin, daß der zweite Bürgermeister die Armenverwaltung unter sich hatte und dessen Gemahlin an der Spitze des Vaterländischen Frauenvereins stand. Da vermochte diese die Wohlthätigkeitsvereine der Stadt, sich unter einander und mit der städtischen Armenbehörde in fortlaufenden Verkehr zu setzen, damit jede unterstützende Stelle von allen anderen erfahre, wem sie beistehen und womit, zur Verhütung doppelter und noch mehrfältiger Hilfe.

Aehnlich hat die Armenbehörde der Stadt Bremen die dortigen Wohlthätigkeitsvereine aufgefordert, ihr im Vertrauen mitzutheilen, was sie thun und wem, um sie nöthigenfalls vor dem Mißbrauch ihrer Mittel warnen zu können.

Am weitesten ist man bis jetzt in Kassel gegangen. Dort entstand bei einer allgemeinen Verjüngung der Gemeinde-Armenpflege der Wunsch, weibliche Kräfte heranziehen zu können; und kaum aufgetaucht, wurde er auch erfüllt, indem der Vaterländische Frauenverein eine seiner Abtheilungen zu förmlichem Eintritt in die Reihen der Pflegekräfte anbot. Seitdem wirken Pflegerinnen gleichberechtigt mit den Pflegern, und ihre Oberin hat Sitz und Stimme in der Behörde, die die ganze städtische Armenpflege leitet. Wie vortrefflich das gehe und wirke, bezeugte in der Bremer Versammlung von der einen Seite der Bürgermeister, von der anderen der Schriftführer des Vaterländischen Frauenvereins. Ersterer rieth zugleich auf Grund der vierjährigen Erfahrung Kassels an, die Frauen nicht einzeln in den Bezirksberathungen unter männlichen Armenpflegern sitzen zu lassen und die Auswahl der ihnen anzuvertrauenden Geschäfte nicht allzu ängstlich einzuschränken.

Man sollte denken, daß jene große Reform städtischer Armenpflege, die von Elberfeld ihren weltbekannten, geschichtlichen Namen trägt, schon von selbst die Aufnahme möglichst vieler Frauen in den thätigen Kreis und ihre Befassung mit den meisten, wo nicht allen Pflegegeschäften nach sich ziehen müsse. Wo man von roher Gabenvertheilung (außerhalb der Anstalten) übergeht zu sorgfältiger Einzelbehandlung, wo man den Kindern und Schwachen Erziehung angedeihen läßt und den vom Erwerb abgekommenen vollkräftigen Erwachsenen freundschaftlich beisteht, da stellt sich plötzlich ein bisher unerhörtes Bedürfniß nach pflegenden vormundschaftlichen Kräften heraus. Durch Anstellung gegen Entgelt läßt es sich nur zum allerkleinsten Theile befriedigen. Es ist aber auch nicht etwa ein Streben nach nothdürftigem Ersatz, daß man freiwillige Pfleger vorruft: dieser Freiwilligen-Dienst hat vor der kahlen kalten Abmachung der Sache durch lauter bezahlte Angestellte deutlich empfundene Vorzüge. In den großen rheinischen Fabrikstädten, wo die Unsicherheit der Lage und steten Beschäftigung der Arbeiter zu ausreichendem Lohne ohne Unterlaß vor Augen steht und die Gemüther beherrscht, hat es seit einem Menschenalter nicht schwer gehalten, die nöthige Zahl von Pflegern unter den bemittelteren Männern zu finden, mögen diese dort verhältnißmäßig auch wenig zahlreich sein. In Städten mit nicht so dringender und auffälliger Noth der Massen, in kleinen Städten vollends und auf dem Lande hat es seine große Schwierigkeit. Diese Schwierigkeit aber nimmt allenthalben noch täglich zu mit den gewaltig wachsenden Ansprüchen des Staats an seine Bürger, der verschiedenen Kirchen an ihre Angehörigen, der Gemeinden, Körperschaften und Vereine an Alle, die über das nächste eigne Bedürfniß hinaus ein wenig Kraft, Mittel und Muße übrigbehalten. Da melden sich doch die Frauen zu den Geschäften und Sorgen der Armenpflege höchst willkommen!

Selbst in Elberfeld und Crefeld, den Musterstädten heutiger rechter Armenpflege, hat man nicht ganz auf ihre Hilfe verzichten wollen. Nur beschränkt man sie dort auf einen Theil des großen Geschäfts: in Crefeld bleibt die Untersuchung der Hilfsbedürftigkeit ihnen fern, in Elberfeld leiten sie die Krippen und die Ferienkolonien. Das erklärt sich vollkommen aus der langjährigen Schulung der dortigen männlichen Pfleger. Ohne Noth giebt man die schwierigeren Aufgaben eines Berufs nicht gern an Neulinge ab. Aber wo das Massenaufgebot von Freiwilligen wider die Massennoth – wie man das Elberfelder System kurz charakterisiren könnte – noch jung ist oder erst erfolgen soll, da steht nichts Vernünftiges im Wege, die Frauen von vornherein gleich den Männern in Reihe und Glied zu stellen.

„Leistungen werden bald,“ sagte der Korreferent auf dem Bremer Armenpflegertag, „die verantwortlichen Leiter überzeugen, daß den Frauen, die sich hier freiwillig anbieten, nach und nach fast alle Geschäfte der Armenpflege ziemlich ebenso gut wie Männern übertragen werden können. Ich glaube für meinen Theil nicht daran, daß sie sich für Registerführung und Kassengeschäfte nicht eignen sollten. Nur wo es sich um die genaue Gesetzeskunde des Juristen handelt, wird dem Manne diese specielle Schulung dauernd seinen Vorzug erhalten. Im Uebrigen braucht ja nichts gewagt und überstürzt zu werden. Man geht schrittweise vor und erzieht sich so die Helferinnen allmählich zu immer umfassenderer Verwendung, wie man sich auch die neu zutretenden Männer erziehen muß. In dem Maße wie das Zutrauen in ihre Leistungsfähigkeit wächst, werden mehr Männer frei für die vielen sonstigen Ansprüche des öffentlichen Lebens, die zur Ueberbürdung aller Willigen führen, und treten mehr Frauen aus der Nichtigkeit pflichtenlosen Daseins über in eine berufsartige Arbeit, welche ihnen selbst noch mehr Lebensfreuden in Aussicht stellt als der nach ihrer linden Hand verlangenden hilfsbedürftigen Armuth.“

Wenn dieser kulturgeschichtliche Vorgang sein einstweilen nicht zu bestimmendes natürliches Ziel erreicht hat und damit die Grenzen in einander fließen, welche heute noch das Wohlthun unaufhaltsamen weiblichen Mitleids an den Hausthüren und in den Frauenvereinen von der strenggeordneten durchdachten Armenpflege guter Behörden trennen, wird ein großer Zwiespalt und Widerspruch in unserer Behandlung der dauernden, immer aufs neue hervortretenden und Hilfe erheischenden wirthschaftlichen Nothstände verschwinden. Kopf und Herz, möchte man sagen, gehen dann auf diesem wichtigen socialen Gebiet eine neue Ehe ein, deren fruchtbringende Harmonie sich in allen Sphären der Gesellschaft ebenso stärkend wie versöhnend fühlbar machen wird.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_724.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2023)