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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

gemischten Liebesgesang, während dessen der sonst so wachsame Auerhahn blind und taub ist für alles, was in seiner Nähe vorgeht – dann suchte sich Gidi mit drei oder vier hastig ausgeführten Sprüngen dem Baume zu nähern, auf dem er den Hahn vermuthete – und laut- und regungslos stand er wieder, ehe das Schleifen noch völlig zu Ende war. Einige Sekunden verstrichen, dann begann der Hahn sein „G’setzl“ aufs neue, und wieder sprang der Jäger. So wiederholte sich das vielleicht ein Dutzendmal. Als Gidi dem Standort des Hahnes sich so weit genähert hatte, daß er den „Falzgesang“ bis auf den leisesten Ton genau vernehmen konnte, ließ er mehrere Gesetzlein vorübergehen, ohne sich vom Platze zu rühren.

„Das ist der alte Hahn net – das is er net,“ raunte er vor sich hin und spähte mit vorgerecktem Kopfe durch das Gezweig der nahe stehenden Bäume.

Da sah er plötzlich den Hahn auf einem Aste einer noch laublosen Buche stehen. Scharf hob sich der mächtige schwarze Vogel von dem morgenblassen Himmel ab. Gidi’s scharfe Blicke unterschieden trotz der Dämmerung die weißen „Schilder“ und hinter dem rührsamen Hackenschnabel den Schimmer der grellrothen Augenbogen. Der Hahn falzte und schnackelte, daß es eine Freude war – ein „G’sangl“ um das andere, fast ohne abzusetzen – und dabei tanzte er so lustig auf seinem Aste hin und her, duckte und streckte sich, reckte und blähte den Hals, an dem sich die spitzen Federchen gleich Stacheln sträubten, spreizte und schloß die Schwingen und „radelte“ und fächerte den „Stoß“, daß es nur so klapperte.

„Ich hab’s ja g’sagt – a junger Hahn is,“ murmelte Gidi, als er die breiten weißen Sprenkeln der Stoßfedern zu erkennen vermeinte. „Da hat er ihn richtig g’holt, den alten Hahn, der Tropf, der miserablig! Aber wart’ – dem leg’ ich ’s Handwerk noch!“

Da fuhr der Jäger lauschend auf; es war ihm gewesen, als hätte er ein Reis knacken hören wie unter einem Tritte – und er konnte sich nicht getäuscht haben, denn der Hahn, der eben mit Klipp und Klipp ein neues Gesetzlein beginnen wollte, ließ plötzlich sein Falzlied verstummen und strich mit rauschendem Schwingenschlage thalwärts durch die Bäume.

Hastig wandte sich Gidi der Richtung zu, aus welcher jenes Geräusch gekommen war, und sah aus einem nahen Tannendickicht den in der Dämmerung matt blinkenden Lauf einer Flinte gegen seine Brust gerichtet.

„Wer da?“ rief eine rauhe Stimme; Gidi aber hörte diese Worte nicht – einen kurzen Pfiff nur stieß er aus, während er mit raschem Sprunge hinter einem Baume Deckung suchte – und schon lag ihm die Büchse im Anschlag an der Wange.

„G’wehr nieder, sag’ ich – oder es schnallt!“ so klang sein drohender Anruf.

Dort im Gebüsche senkte sich die Flinte, und Gidi hörte eine wohlbekannte Stimme flüstern: „Das ischt er ja net – das ischt er ja net – das ischt ja der Grafenjäger!“

„Jeh – da schau!“ murmelte Gidi und ließ die Büchse sinken.

(Fortsetzung folgt.)

Moderne Wandlungen und Neubildungen.

Von Fr. Helbig.
I.
Die Stadt von ehedem. – Die Wandlung zur Großstadt. – Centralisation und Decentralisation. – Barackenstadt, Keller- und Dachwohnung. – Die Miethskaserne. – Die Mittel des Verkehrs. – Die bauliche Modernisirung. – Straßenreinigung und -Pflasterung. – Die Beleuchtung. – Kanalisation und Entwässerung. – Wasserleitung. – Der menschliche Erfindungsgeist.

Größere Veränderungen in den Anschauungen und Ordnungen der menschlichen Gesellschaft pflegen zu ihrer Ausgestaltung meist Jahrhunderte in Anspruch zu nehmen, so daß innerhalb des Rahmens eines Menschenlebens dieselben gemeinhin nur wenig bemerkbar werden. Wie geradezu beispiellos rasch ist dagegen die Wandlung der Verhältnisse in unsrer Zeit erfolgt! Ein Mensch, der jetzt eben in sein fünfzigstes Lebensjahr eingetreten ist und von da einen vergleichenden Rückblick thut auf die ersten zwanzig Jahre seines Lebens, kann schon des gewaltigen Umschwungs inne werden, der sich innerhalb dieser dreißig Jahre in den Menschen und Dingen, ja sogar in der äußeren Physiognomie von Ort und Landschaft vollzog. In dieser kurzen Zeitspanne begegnen sich oft noch die alten überlebten Formen des Mittelalters mit den frischen Bildungen der Neuzeit. So rasch hat sich das Alles entwickelt!

Wir wollen in dem Folgenden einige solcher Wandlungen und Neugestaltungen zu schildern suchen und beginnen mit der Schilderung des Wachsens und Werdens einer modernen Großstadt und der dadurch bedingten Neubildungen.

Die alte Stadt mit ihren Thoren und Thürmen, Mauern und Wällen ist nach und nach gänzlich geschwunden, nur hier und da ist unter dem schützenden Einflusse eines stark entwickelten historischen Sinnes noch ein vereinzeltes altes Wahrzeichen stehen geblieben, ein zinnengekrönter Thurm, ein von Epheu und wildem Wein umrankter Mauerrest als bequemes Dekorationsstück einer gärtnerischen Anlage. Der Wallgraben, in welchem noch vor vierzig Jahren die Kinder der Vorstädte sich fröhlich im Spiele tummelten, die Frauen die Wäsche wuschen und bleichten und der Seiler langsam rückwärts schreitend seine hanfenen Fäden zog, wurde zuerst verschüttet und geebnet. Längst war ja schon der Unterschied zwischen Pfahlbürgerthum und Stadtbürgerthum, den er einst markirte, ausgeglichen. Das geebnete Terrain wandelte sich zu anmuthigen Anlagen, zu jenen Alleen von Linden und Kastanien, wie sie noch heute viele Städte kranzartig umgeben als „Graben“ oder Promenade. An die Stelle der Bäume trat aber dann meist ein Ring von Gebäuden und zwar Gebäuden von besonderer Pracht und Größe, da sie Raum genug besaßen, sich zu breiten und zu dehnen. So entstand jene in ihrer Großartigkeit, in dem theilweisen Zusammendrängen von Monumentalbauten ersten Ranges geradezu einzige Wiener Ringstraße, so entstanden die Pariser Boulevards und in Berlin die auf dem alten Stadtmauergrund sich erhebenden Avenuen der Königgrätzer, Gitschiner, Elsasser Straße.

Erst durch dieses allgemeine Nivellement wurde der Boden geschaffen, auf dem die moderne Großstadt entstehen konnte. Während in der alten mauerumgürteten Stadt sich Alles nach innen drängte, drängt sich nunmehr alles nach außen, nach Luft und Licht, vor denen man sonst eine wahre Scheu hatte. So bildeten sich zwei kontrastirende Elemente in unseren modernen Städten heraus. Findet nach dem Mittelpunkte zu die möglichste Koncentration statt, so herrscht in den äußeren Bezirken die möglichste Decentralisation. So wird die Innenstadt immermehr zu einer bloßen Stätte des Handels und Geschäftslebens. Die menschlichen Wohnungen werden dort immer seltener. Selbst die alten Patricierhäuser mit ihren mächtigen Portalen, weiten Treppenaufgängen und Raum verzehrenden Vorsälen, seit Jahrhunderten die wohnliche Herberge des Geschlechts, eine steinerne Chronik der Familie, werden von ihren alten Inhabern verlassen und zu Geschäftskomptoiren und Lagerräumen verwandelt. Die Familie des Kaufherrn löst sich von dem Geschäfte ab und zieht hinaus in die Vorstadt, in die stolze prächtige Villa. So ist es in der ältesten Großstadt des modernen Europas, in London, schon so weit gekommen, daß in der eigentlichen City, der Innenstadt, kaum noch Jemand wohnt.

Das Anwachsen der Bevölkerung bedingt nun auch eine größere räumliche Ausdehnung. Der Zuzug von außen, von kleineren Städten, aus dem Flachlande ist bei günstigen Bedingungen und zu manchen Zeiten dabei oft ein so rascher, daß ein Mißverhältniß zwischen Angebot und Nachfrage eintritt. So war namentlich der Zuzug nach Berlin, unmittelbar nachdem es zur Hauptstadt des Deutschen Reichs geworden, im Jahre 1871, ein so mächtiger, daß 163 Familien völlig obdachlos waren und vor dem Kottbuser Thore die Neubildung jener bekannten Barackenstadt („Barackia“) entstand, welche der Berliner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 741. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_741.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2024)