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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

In Berlin hat sich in den letzten zwanzig Jahren die Zahl der öffentlichen Laternen um 350 Procent vermehrt, die der Privatflammen sogar um 637. Was würde einer jener wohlehrsamen Bürger in Escarpins und Tressenrock mit Zopf und Dreimaster sagen, wenn er Abends durch die in ein Meer von Licht getauchten Straßen einer unsrer Großstädte ginge! Und dabei stehn wir jetzt wieder vor einem großen mächtigen Fortschritte, denn es wird die menschliche Erfindungskraft in Verbindung mit dem aller engherzigen Geldrücksichten entkleideten Unternehmungssinne sicher dafür sorgen, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo mächtige über Straßen und Plätze geleitete elektrische Bogenlichter den Unterschied von Tag und Nacht fast völlig ausgleichen.

Eine neue schwere Aufgabe bot sich für die wachsende Großstadt in der Nothwendigkeit, die Unmassen von Abfallstoffen und menschlichen Unraths, deren Anhäufung die Keimstätte epidemischer Krankheiten sein würde, in geeigneter Weise zu entfernen. Die Vergangenheit verfuhr in diesem Punkte noch mit der primitivsten Sorglosigkeit. Berlin hat gerade in jüngster Zeit die Aufgabe, die hier gestellt war, in wahrhaft großartiger Weise gelöst in dem Systeme seiner Kanalisation und Entwässerung. Unterirdische Kanäle vereinigen ihre Wässer in einem Hauptsammler, und von da aus werden dieselben mit den an allen Orten und Enden aufgenommenen Fäcalien der ganzen Stadt in Druckleitungen den von der Stadt angekauften Feldern zugeführt, für welche sie gleichzeitig ein reiches Düngmaterial bieten. Zum Ankaufe dieser Rieselfelder hat die Stadt allein elf Millionen Mark verwandt. Das ganze großartige Unternehmen hat einen Kostenaufwand von über 59 Millionen Mark verursacht.

Die mit dem Wachsen der Großstadt gleichmäßig wachsende Fürsorge für die Gesundheit, die Beschaffung der für des Leibes Nahrung und Nothdurft nothwendigen Lebensmittel, hat weiter die Gründung von Markthallen, Viehhöfen, Schlachthäusern und kostspieligen Wasserleitungen zur Beschaffung reinen Trinkwassers ins Leben gerufen, von welch letzteren jene der Stadt Wien die bedeutendste ist, welche aus einer Entfernung von 131/2 Meilen und aus einer Höhe von 363 Metern das Alpenwasser aus dem Kaiserbrunnen im Höllenthale und der Sixtensteiner Quelle am Fuße des Schneeberges nach der Stadt führt und einen Kostenaufwand von 17 Millionen Gulden verursachte.

Also ist die Großstadt, selbst ein Produkt der Neuzeit, wieder die Quelle einer Menge von Neubildungen. An ihr Regiment treten immer neue Anforderungen heran, welche der Lösung menschlichen Scharfsinns harren. Diese Lösung wäre nicht möglich ohne die großen Resultate, welche in unserem Jahrhunderte die realen Wissenschaften erzielten, die gerade im Dienste des Lebens ihre nutzbare Verwerthung finden. Je mehr sich die Menschen auf einen Punkt zusammendrängen, desto schwerer wird für den Einzelnen der Kampf ums Dasein, aber um so mächtiger ist auch die Anregung, welche dabei der denkende schaffende Geist empfängt. Je mehr in dem Gewühle unserer Großstädte die niederen Leidenschaften ihr verborgenes Dasein führen, um so weiter ist auch hier der Wirkungskreis gezogen für die Tugenden der Menschenliebe und der waltenden Fürsorge für Wohlfahrt und Glück.


Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.
(Fortsetzung.)

Im Lichte der Gaslaternen tauchten ein Paar schnaubende ungarische Jucker auf, von denen der Rauch in die Nachtluft aufstieg, als kochte das Blut in ihren Adern, und vom Kutschbock herab bot ein Urbild von Wiener Fiaker, den flotten Cylinder auf dem einen Ohr, hinter dem anderen den langen Strohhalm einer Virginiacigarre, dem Herrn Baron ehrbar vertraulich seinen dienstwilligen Gruß. Die Pferde standen auf einen Ruck wie mit acht Beinen in den Boden gewurzelt.

Edgar hob Bianca in den Wagen, die andere Familie kroch nach. Eine männliche Maske schwang sich auf den Bock neben den rothnasigen Rosselenker, während Edgar sich bemühte, die Sängerin in die weite englische Decke zu wickeln, damit die grauverkappten Feenpfötchen nicht frören und die Nachtigallenstimme keinen Schaden litte.

Ein rascher Händedruck dankte ihm für seine Sorgfalt. Aber wie wenn ein plötzlicher Einfall sie erschrecken machte, zuckte das Mädchen zusammen und fragte, die Hand Edgar’s in der ihrigen behaltend, als könnte sie dadurch verhindern, daß die Pferde früher anzögen, als sie genügende Antwort erhalten haben würde:

„Wo ist denn Otto?“

„Hier!“ erklang es in wohllautendem Bariton vom Bock herunter, und wer hinauf sah, mochte im schwankenden Schimmer der Laternen und Fackeln ein schmunzelndes glattrasirtes Gesicht unter tief in die Stirn gedrücktem Cylinder erblicken, welches aber nur ich als das meines geistlichen Freundes erkannte.

„Gute Nacht!“ Ein leiser Pfiff vom Bock. Die Räder knirschten. Noch einmal „Gute Nacht!“ und „schönen Dank, Herr Baron!“ und „Auf Wiedersehen! auf Wiedersehen!“ Und Edgar stand allein im viereckigen Hofe des Theaters an der Wien. Allein, wie er sich nie im Leben gefühlt hatte. Allein, obschon eine Menschenwoge nach der anderen um ihn herumschlug und ihn wider seinen Willen vom Platze drängte. Derweilen er also, halb entzückt, halb betroffen, den Zauber auskostete, der aus so kurzer Begegnung und Unterredung über ihn erging, streckte sich Bianca nachdenklich schweigend in den Kissen des bequemen Wagens aus. Er war doch noch nicht recht sicher, ob er das gefährliche Mädchen wirklich morgen wieder sehen oder ob die ganze Sehnsucht und Bangigkeit, von der er sich glühen fühlte, nicht länger funkeln werde, als die Cigarre, die er sich eben ansteckte, brauchte, um zu eitel Asche verraucht zu sein.

Bianca gehörte zu denjenigen Naturen, die ein erhöhtes Lebensgefühl in sich verspüren, sobald vier Räder unter ihnen ins Rollen gerathen. Und wie rollten diese! Hurraxdaxdax! wie der Wind ging’s über das schallende Pflaster! Und dabei ward man so sanft gewiegt, wie ein Schmetterling in einer Blume! … Wie bequem, wie gut haben es die reichen Leute! …

Sie schmunzelte in ihren Gedanken vor sich hin. Niemand störte sie in ihrem Sinnen. Der Vater schnarchte neben ihr in der anderen Ecke. Die Schwestern ihr gegenüber erwachten nur auf Sekunden, wenn sie einmal mit den wackelnden Köpfen einander zu nahe kamen. Der Vetter … ja, der Vetter, was der wohl dachte? … aber er plauderte draußen mit dem Kutscher auf dem Bock. Sie wollte ihn morgen fragen, was er dachte. Heute nicht. Heute wollte sie träumen, daß der Wagen ihr gehörte, daß sie reich wäre, ach so reich! … so reich, wie Edgar von Sperber zum Beispiel.

… Er sollte sehr reich sein, dieser Edgar. Wirklich sehr reich. Und es war ein guter, liebenswürdiger, hübscher Mensch. Und er liebte sie … So schien’s wenigstens und er sagte so …

Freilich! Was sagen die Männer nicht alles in kleine Mädchenohren hinein!

Aber einen Mann toll zu machen, war das so schwer? Sie konnte es nicht recht glauben. Sie mochte es nicht glauben.

Sie mochte reich werden. Sehr reich … Sie konnt’ es. O gewiß, das fühlte sie … Aber um welchen Preis? …

Auch das stand bei ihr … Vielleicht … vielleicht auch nicht. „Otto!“ rief sie unwillkürlich, als könnte sie sofort sich bei ihm Raths erholen. Träumte sie mit offenen Augen?

Da standen die Pferde, die Sippe raffte sich aus dem Schlaf empor und der Wagenschlag flog auf. Bianca hüllte sich ganz fest in ihr knappes Mäntelchen ein und hielt es mit beiden Händen über der Brust zusammen, als könnte sie all ihr Denken und Wünschen damit an ihr Herz drücken und vor den Ihrigen verbergen.

„Gute Nacht, Kousin!“ rief sie aus dem Wagen springend und sich eng ans verschlossene Hausthor drängend, aber ohne ihm eine Hand aus dem Mantel zu reichen, ja ohne ihm gerad ins Gesicht zu sehen. „Komm morgen! Ich hab Dir was zu erzählen.“

Dann sagte sie nichts mehr, obwohl es nach angenehmer Wiener Sitte ziemlich zehn Minuten dauerte, bis der Hausmeister

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_743.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2024)