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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

nur ein Mensch – und es können Stunden kommen, in denen man seiner selbst vergißt. War eine solche Stunde auch für Ferdl gekommen? Und wenn es so war, zu welch einem Entsetzlichen mußte sie ihn verführt haben, da ihn die Furcht vor der Strafe, oder auch nur die Reue und das Grausen über so entsetzliche That zu solcher Flucht verleiten konnte, die zum Unrecht neues Unrecht fügte!

Und wieder versank der Jäger in stummes Brüten.

Rings um ihn erwachte mählich der Tag. Rothes Licht übergoß den Himmel und fluthete durch den Bergwald, um wieder zu erblassen vor den lichtsprühenden Strahlen, die von Osten her emporschossen über das Firmament, das schneebedeckte Felsenhaupt, hinter welchem die Sonne hervortauchte, sah sich an, als trüg’ es eine Riesenkrone von weißglühendem Erze.

Ein blendendes Leuchten und Flimmern webte durch das Gezweig der Bäume und über den Moosgrund, auf dem die Thautropfen in bunten Farben funkelten.

Da plötzlich klang von ferner Felsenhöhe hernieder ein dumpfes Brummen und Knattern.

Gidi fuhr empor und riß den Bergstock aus dem Moose.

Dort oben mußte über eine der steilen Wände eine Schnee- oder Steinlawine niedergegangen sein. Wer mochte sie gelöst haben? Eine flüchtende Gemse – oder – –

Heiß schoß dem Jäger das Blut in die Stirn! Daß ihm aber auch jetzt erst dieser Gedanke kam! War es nicht sein Freund, der da umherirrte im Bergwald oder zwischen Felsen – und wenn er des Schutzes bedurfte, mußte er ihn nicht zuerst beim Freunde suchen?

Gidi stürzte über den Hang dahin, daß unter seinen Schuhen die Steine klapperten und flogen. Auf und nieder über Buckeln und Gräben führte sein Weg, aus dem Bergwald hinaus über die Weidelichtung der Bründlalm, und wieder dahin unter ragenden Tannen, dem Höllbachgraben zu, daraus ihm von Ferne schon das Brausen und Tosen der wilden Gewässer entgegendröhnte. Jetzt erreichte er die Schlucht – ein Baumstamm war als Steg über den schwarz und bodenlos gähnenden Abgrund geworfen – Gidi eilte darüber hinweg, als wär’ es breite Straße.

Keuchend und triefend von Schweiß erreichte er die aus behauenen Blöcken gefügte Jagdhütte. Sie stand auf einem grasigen Hügel, überschattet von riesigen, moosbehangenen Lärchen.

Erschäpft lehnte sich Gidi an die Hüttenwand, verhielt den Athem und lauschte zur Höhe. Er vernahm nur das Rauschen der Bäume und das dumpfe Donnern des Höllbaches.

Nun schloß er die aus dicken Bohlen gebildete Thür auf und trat durch den Küchenraum in die Stube. Er legte Büchse und Rucksack ab, dann öffnete er die beiden kleinen, mit starken Eisenstäben vergitterten Fenster und stieß die Läden auf. Grelles Sonnenlicht erhellte den mit Brettern verschalten Raum, dessen Einrichtung aus Tisch und Bänken, einem Wandschranke und einem Geschirr-Rahmen, einem kleinen eisernen Ofen und einem mit wollenen Kotzen überdeckten Bette bestand.

Mit zerstreuten Blicken irrten Gidi’s Augen über die Wände, mechanisch rührte er die Klinke der versperrten Thür, die zu der anstoßenden „Grafenstube“ führte. Dann ließ er sich auf die Holzbank niedersinken; doch schon nach wenigen Sekunden sprang er wieder auf, eilte ins Freie und setzte sich auf die Schwelle nieder. Mit funkelnden Augen starrte er eine Weile empor zu den felsigem schneebedeckten Höhen; er zog das Fernrohr auf und suchte mit ihm die steilen Hänge und den Grat der Höllenleithe ab. Seufzend ließ er das Glas wieder sinken und verfiel in das alte Aufstarren zur Höhe. Plötzlich fuhr er zusammen. „Was is denn jetzt – das kann doch kein Gams net sein!“

Hastig riß er das Fernrohr vor das Auge und richtete es nach dem schwarzen beweglichen Pünktchen, das er hoch zwischen klotzigen Felsen auf dem steilen schneebedeckten Hange wahrgenommen hatte.

„Ja, ja – Jesus Maria – der Ferdl is – und – mein Gott, mein Gott – g’rad in d’ Händ’ muß er ihnen laufen, wenn er aufsteigt über’n Grat.“

Zitternd sprang Gidi empor, stürzte in die Stube, riß die Büchse an sich, stürmte wieder ins Freie und schmetterte hinter sich die Thür ins Schloß.

Er eilte den steilen Berghang empor, als hätte er ebenen Grund unter sich. Noch ehe der Bergwald zu Ende ging, begann der Schnee, der sich in dicken Klumpen an Gidi’s Schuhe heftete.

Jetzt erreichte er eine offene, von Felsentrümmern übersäete Fläche. Da verhielt er die Schritte und starrte zur Höhe. Nun konnte er schon mit freiem Auge die Gestalt des Freundes unterscheiden, den nur noch eine kurze Strecke vom Grate der Höllenleithe trennte.

„No also – no also – ich hab’ mir ’s ja denkt!“ stammelte Gidi, denn der gleiche Blick, der ihm den Freund gezeigt, hatte ihn auch die scharf vom lichten Himmel sich abhebende Gestalt gewahren lassen, welche vom jenseitigen Berghang über den Grat emportauchte.

Mit zitternder Hand brachte Gidi aus seiner Tasche ein Stückchen Birkenbast hervor – das führte er an die Lippen – und nun schrillte von seinem Munde ein Laut in die Lüfte, der dem gellenden Schrei des Habichts glich. Dreimal wiederholte er dieses Warnungszeichen. Das mußte Ferdl hören und mußte sich dabei an frühere Zeiten erinnern, in denen sich gar häufig die beiden Freunde mit diesem Ruf im Bergwald gesucht und gefunden hatten.

Noch gellte der dritte Schrei auf Gidi’s Lippen – da sah der Jäger, wie Ferdl im Anstieg plötzlich innehielt und in rasender Flucht sich thalwärts wandte. Gidi’s Warnungsruf konnte noch nicht bis in jene Höhe gedrungen sein – Ferdl selbst mußte die Gefahr gewahrt haben, die über ihm drohte. Doch auch der Verfolger mußte von der Höhe des Grates aus den Flüchtling erblickt und erkannt haben, denn in fliegender Eile stürmte er über den steilen Hang hernieder der Stelle zu, von welcher aus die Fährte im Schnee ihm den Weg verrathen mußte, den Ferdl genommen. Gidi meinte in dem Verfolger den Begleiter des Kommandanten zu erkennen – und er sah ihn allein – Niemand folgte ihm. Hatten die mühsamen Pfade jenseit des Grates den Kommandanten hinter seinem Begleiter zurückbleiben lassen – oder war er überhaupt nicht emporgestiegen zum Grate, sondern andere Wege gegangen?

Gidi nahm sich die Zeit nicht, diese seine stumme Frage zu beantworten. Er zwängte sich zwischen Felsenblöcken hindurch, wand sich über Geröll und klotziges Gestein und eilte dem Rande der Höllbachklamm entgegen. Immer dem Abgrund folgend, mühte er sich keuchend der Höhe zu. Das Rauschen und Brausen der Gewässer, die ihm zur Seite in dunkler Tiefe ihre schäumenden Wirbel schlugen, erfaßte das Geräusch seiner Tritte. Es gehörte der schwindelfreie Blick und der sichere Fuß des Jägers dazu, um solchem Wege mit solcher Eile zu folgen, da war nirgends ein Uebergang von der offenen Höhe zur Tiefe – überall jäh abstürzendes Gestein, bald erweiterte sich die Schlucht zu riesigen Kesseln, in deren Abgrund die milchweiße Brandung kochte, bald wand und krümmte sie sich im Bogen oder im Zickzack, und da brüllte der Bach unter dem Zwange seiner engen Fesseln, sich aufbäumend an verwaschenen Felsen, bald wieder verschwand das Wasser mit dumpfem Brummen unter vorspringenden Felsgeschieben, unter schief in bodenlose Tiefe sich senkenden Wänden. Ueberall entquoll eine dunstige Kälte dem Abgrund, und dünne Nebel schwebten aus ihm empor, um unter der Sonne in Luft zu zerfließen.

Höher und höher eilte Gidi, in Angst und Sorge, ob er wohl rechtzeitig noch jene Stelle erreichen würde, an welcher der Abgrund seine Ränder so nahe an einander zieht, daß er mit einem herzhaften Sprunge zu übersetzen war. Ferdl mußte auf seiner Flucht in die Nähe jener Stelle gelangen, denn weiter drüben sperrten steilabstürzende Felsen seinen Weg, und die offene Almlichtung durfte er nicht betreten. So hoffte Gidi, daß es ihm gelingen möchte, den Freund im richtigen Augenblicke an jene Stelle zu rufen – und wenn er ihn erst an seiner Seite hatte, dann wußte er ihn schon auf Wege zu führen, auf denen kein Dritter ihnen folgen würde.

Ein Aufstieg von wenigen Minuten noch, dann mußte Gidi jene Stelle erreichen. Nur eine offene, von Geröll überdeckte Felsfläche und einen niedrigen, von Latschen und kümmernden Fichten bewachsenen Hang hatte er noch zu überwinden.

Nun erreichte er jene offene Felshöhe – und da erstarrte ihm jählings der Fuß. Auf dem jenseitigen Rande der Schlucht sah er den Kommandanten hinter einem Steinblock kauern; lauschend hielt er den Kopf erhoben und spähte über die Kante des deckenden Steines hinweg, jetzt richtete er sich hastig in geduckte Stellang empor – aus dem bergwärts ziehenden Latschendickicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 754. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_754.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2022)