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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Hastig schüttelte Dori den Kopf, den er tief auf die Brust senkte. „Nix – nix – gar nix! G’rad – g’rad ’denkt hab’ ich mir – wenn einer so ’was thät’, wie fürchtig das wär’ – wie fürchtig – wie fürchtig! Aber – aber ha, Veverl – sag’ um Tausendgottswillen – wann jetzt so einer gar net wissen thät’, daß das an Armeseelenmahl war, von dem er ’gessen und trunken hat?“ Und mit dem Ausdrucke flehender Angst hingen die weitoffenen Augen des Burschen an Veverl’s Lippen.

Veverl besann sich eine Weile, dann schüttelte sie langsam das Köpfchen und entschied mit allem Ernste, dessen ihr liebliches Gesichtchen fähig war: „So ’was muß man wissen!“

Dem Burschen schrumpfte der Kopf zwischen die Schultern, und sein Kinn bewegte sich, als wollten ihm die Zähne zu klappern beginnen. „O heilige Maria – jetzt is schön – jetzt is schön! Und – und so ei’m – is gar – gar nimmer z’ helfen?“

„O ja!“ nickte Veverl – und da streckte Dori die Hände, als wollte er sich an den Rock des Mädchens klammern, und sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das sich halb wie Lachen ansah halb wie Weinen. „O ja – weißt – so einer muß halt sein verfallenes Leben lösen – er muß ei’m andern Menschen ’s Leben retten, hat mein Vaterl g’sagt.“

Trostloser Jammer malte sich wieder in Dori’s Zügen. „O mein – o mein,“ stammelte er, „das is ja g’rad wie gar nix! Wie kommt denn so einer g’schwind zu so ’was – das is ja gar net zum denken!“

Veverl schien diese Worte nicht mehr zu hören. Hastig war sie aufgesprungen, und während sie die Röcke schüttelte und glättete, schmollte sie: „Na, na, schau nur grad an, wie spät als ’worden is! Geh – komm, Dori – jetzt heißt’s aber tummeln – komm, komm!“ Und hurtigen Schrittes eilte sie schon auf dem bergwärtsführenden Pfade dahin durch den dämmernden Wald.

Mühsam erhob sich Dori, und seine Füße schienen ihn kaum tragen zu wollen, als er dem Mädchen folgte.

Nach kurzer Wanderung erreichten sie eine Stelle, an welcher der Pfad eine Biegung machte, um quer über den waldigen Berghang eben fortzulaufen.

„Veverl!“ rief Dori plötzlich das Mädchen an, und als es die Schritte verhielt und ihm fragend entgegenblickte, sagte er mit stockenden Worten, ohne die Augen von der Erde zu heben: „Gelt, Veverl, mußt net harb sein, daß ich net weiter mit Dir geh! Aber von jetzt an findst den Weg ja blindlings – und – weißt – ich muß noch weit in d’ Höh’ – ich hab’ mein’ Liegerstatt da droben, wo meine Schaf’ auf der Weid’ sind.“

„Aber ja, geh’, Dori, geh! Laß Dich von mir net abhalten!“ mahnte Veverl. „Ich find’ mich schon hin zur Hütten – und – morgen in der Fruh, da kannst ja ’runter und holst mich ab zum Edelweißbrocken – gelt?“

„Ja – schon – wann – wann ich noch kommen kann!“ stieß Dori mit versagender Stimme vor sich hin, während er den Stachel des Bergstockes in die Erde wühlte.

„Weßwegen. sollst denn net kommen können! Brauchst ja bloß Deine Füß’ a bißl rühren!“ lachte Veverl und streckte dem Burschen die Hand entgegen. „Also, b’hüt Dich Gott!“

Dori drückte und schüttelte Veverl’s Hand und erwiderte ihr „B’hüt Dich Gott“ mit einer Stimme, als gälte es einen Abschied fürs Leben. Da schaute ihm Veverl verwundert und besorgt ins Gesicht; eine Frage lag ihr auf der Zunge, schon aber riß sich Dori los und stürmte, ohne sich noch einmal umzusehen, geraden Weges den steilen Hang empor.

„Was hat er denn? Was hat er denn?“ murmelte Veverl, während sie dem Burschen kopfschüttelnd nachschaute, bis er im Dickicht verschwand und seine Tritte verhallten.

Zögernden Schrittes und sinnend vor sich niederblickend, folgte sie dem Wege. Bald erreichte sie die Lichtung, auf welcher, wie Dori vor kaum einer Stunde erfahren, Gidi’s Zusammentreffen mit dem räthselhaften Schafdieb stattgefunden hatte.

Eine falbe Helle lag über dem Platze, den spärliches Buschwerk nur bedeckte, daraus sich einzelne verwitterte Felsblöcke erhoben. Veverl hatte die Lichtung überschritten und wollte schon wieder den dunklen Wald betreten, da hörte sie plötzlich einen schwirrenden Flügelschlag und dann ein kurzes Flattern. Hastig blickte sie der Richtung zu, aus welcher sie das Geräusch vernommen hatte – und ein leiser Aufschrei glitt von ihren Lippen. Auf einem der Felsblöcke sah sie einen weißen, schwarzgeschnäbelten Vogel sitzen, der wie nach eben erst vollendetem Fluge die Schwingen schloß.

„Na – na – das is ja net möglich – das kann ja net sein!“ stammelte sie, während sie zögernden Fußes um einige Schritte zurücktrat in die Lichtung und dabei mit beiden Händen nach ihrem Gesichte fuhr, als wollte sie mit Fingern fühlen, ob es denn wirklich wache, offene Augen Wären, mit denen sie zu sehen meinte, was sie doch nicht glauben konnte.

Der Vogel mußte ihre murmelnde Stimme und das Geräusch ihrer Schritte vernommen haben. Hurtig reckte und drehte er den Kopf, dann duckte er sich nieder und begann zu plappern: „do, do, Echi, a do, a do!“

„Jesses ja – o du mein lieber Herrgott!“ jubelte Veverl auf und eilte mit ausgestreckten Armen durch das Gestrüpp dem Felsblock zu. „Ja Hansei – o mein liebs Hansei – Hansei – Hansei!“

Schon war sie dem Stein so nahe, daß sie den Vogel haschen zu können meinte, da flatterte er mit zornigem Krächzen empor und flog dem Walde zu.

„O mein Gott – o mein Gott – er kennt mich nimmer!“ schluchzte Veverl unter plötzlich ausbrechenden Thränen auf, und während sie der Richtung zueilte, in welcher der Vogel zwischen den Bäumen verschwunden war, rief sie lockend und schluchzend unablässig den Namen: „Hansei – Hansei – mein liebs Hansei!“

Trotz der Dämmerung, die schon im Walde herrschte, sah sie bald hier, bald dort auf einem Aste das weiße Gefieder des Vogels schimmern; sie hörte ihn durch die Zweige flattern, und manchmal auch vernahm sie sein schnarrendes Plappern: „Do, do, gedegg, a do!“ doch immer, wenn sie ihm nahe kam, floh der Vogel mit scheuem Krächzen vor ihr der Höhe zu. Mit Weinen, Jammern, Locken und Rufen folgte sie ihm; sie achtete des Weges nicht, den sie ging, nicht der Richtung, nach welcher dieser Weg sie führte, und vernahm nicht das dumpfe Rauschen, das näher und näher klang, je weiter sie den fliehenden Vogel verfolgte. Sie kam aus dem Walde, sie wand sich durch dichtes Latschengestrüpp – und nun gelangte sie auf einen steilen, von massigem Steingeröll überlagerten Hang.

Wieder sah sie den Vogel auf einem Steinblock sitzen, wieder suchte sie ihn zu haschen, wieder floh er vor ihr – mühsam folgte sie ihm eine kurze Strecke – da plötzlich entschwand er ihren Augen, als versänke er in der Erde – einige Schritte noch that sie, dann fuhr sie erschaudernd zurück, denn ihr zu Füßen gähnte schwarze bodenlose Tiefe.

„Jesus Maria – der Höllbachgraben!“ stammelte sie und wollte von der Stelle fliehen, indeß sie mit zitternder Hand sich bekreuzte, doch schon beim ersten Schritte traf ihr Fuß auf einen locker liegenden Stein, der unter ihrem Tritte ins Rollen kam; sie wankte, versuchte im Wanken seitwärts zu springen und stürzte dabei mit dem einen Fuße beinahe bis ans Knie in eine enge, von Mooswerk überdeckte Felsenschrunde. Ein jäher stechender Schmerz durchfuhr ihren Knöchel, und stöhnend brach sie zusammen. Schwer nur gelang es ihr, den heftig schmerzenden Fuß aus der Spalte zu befreien – doch als sie sich emporzurichten und den verletzten Fuß zu gebrauchen versuchte, hatte sie ein Gefühl, als träte sie auf spitze Nadeln. Mit aller Ueberwindung verbiß sie den Schmerz, unter Marter und Mühe machte sie einige kurze Schritte, aber es wollte ihr nicht gelingen, sich aufrecht zu erhalten – und wieder sank sie nieder auf das rauhe Gestein.

Unter bitterlichem Schluchzen barg sie das Gesicht in beide Hände. Nun wußte sie, daß sie ohne fremde Hilfe keinen Schritt mehr von der Stelle käme. Unter dem Schmerze, den sie empfand, fürchtete sie, den Fuß gebrochen zu haben. Eine Stunde noch, dann mußte sich die Dämmerung zu tiefer Nacht gewandelt haben – und diese ganze, lange Nacht nun sollte sie hier verbringen, an diesem grausigen, unheimlichen Orte – denn nun erkannte sie die Stelle wohl, an welcher sie sich befand: die „hohe Platte“, auf der das Unglück mit dem Ferdl geschehen war. Bei diesem Gedanken ließ Veverl die Hände sinken, und „Dori, Dori, Dori!“ klang es mit schrillenden Rufen von ihren Lippen in die Lüfte. Sie hoffte, daß der Bursche noch so nahe’ wäre, um ihren Hilfeschrei vernehmen zu können. Wieder und wieder rief sie seinen Namen, aber zwischen Wald und Felsen verhallten ihre Rufe, ohne daß ihr Antwort kam.

Endlich verstummte sie und starrte, die Hände im Schoße gefaltet, trostlos vor sich nieder. Da plötzlich gewahrte sie zu ihren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_794.jpg&oldid=- (Version vom 4.2.2023)