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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Oberschenkel gebrochen und lag auf den Tod, welcher denn auch nach dreißigtägigem Leiden eintrat. Tiber warf sich in den Sattel, durcheilte, Tag und Nacht reitend und nur von einem Führer geleitet, die Alpenpässe, erreichte das jenseit des Rheins aufgeschlagene römische Lager und fand den zärtlich von ihm geliebten Bruder noch am Leben, aber doch schon rettungslos. Drusus hatte nur noch die Kraft, einen letzten Befehl zu geben, den Befehl, die Adler dem ankommenden Tiberius entgegenzutragen und denselben als Feldherrn zu begrüßen. Dann starb er in den Armen des Bruders, welcher den Todten in feierlichem Aufzug nach Italien und Rom geleitete, der Trauerpompa den ganzen Weg entlang zu Fuß voranschreitend („pedibus toto itinere progediens“), zum Zeichen seines Schmerzes und seiner Verehrung des Hingeschiedenen, dem er auf dem Forum die Bestattungsrede hielt.

Die Schmähsucht und der Verleumdungsklatsch sind immer Merkmale grundverderbter Zeiten. Es kann dannzumal namentlich auch kein unvorhergesehener Todesfall eintreten, ohne daß sofort von Dolch oder Gift gemunkelt würde. Die Leute sind eben geneigt, einander das Schlechteste zuzutrauen, und haben ja Grund genug dazu. So gab denn der Tod des Drusus der römischen Gesellschaft willkommene Veranlassung zu düsterem Gemunkel, welches sich jedoch erst später lautzumachen wagte. Die Müssiggänger und Müssiggängerinnen von Klatschvettern und Verleumdungsbasen, welche die Fora, die Spazierhallen, die Parke und Bäder unsicher machten, zischelten einander zu, der arme Prinz Drusus sei von Gesinnung ein entschiedener Republikaner gewesen und habe sich ernstlich mit dem Plane getragen, die römische Republik wiederherzustellen. Darum habe man ihn rasch mittels Giftes beiseite geschafft. Das wurde gierig gehört und gern geglaubt. Je abgeschmackter, desto glaubwürdiger. Die erlogene Schandthat wurde anfänglich dem Augustus zugeschrieben, später dann dem Tiberius auf sein Sündenregister gesetzt. Der ernste Tacitus hat die ganz sinnlose Verleumdung keiner Erwähnung werthgehalten.

Den erledigten Heerbefehl in Germanien übertrug Augustus i. J. 7 v. Chr. seinem Stiefsohn, welcher bis zum Jahre 5 diese schwierige Feldherrnpflicht erfüllte. So löblich, daß ihm die Ehre eines Triumphes zuerkannt, er auch zum zweiten Cousulat berufen und endlich auf fünf Jahre mit der „tribunicischen Gewalt“ ausgestattet wurde. Die letztgenannte Würde war schon ein großer Schritt vorwärts zur Mitregentschaft. Kaum nun hatte ihn die Triumphatorsbiga zum Jupiterstempel auf dem Kapital emporgefahren, als er Rom schon wieder verlassen sollte, um nach dem Morgenland zu gehen und in Mesopotamien und Armenien gegen die Parther das Generalkommando zu führen. Gerade jetzt aber trat in sein Leben eine Krisis, welche ihn für lange Jahre zu einem Verbannten machte.


4.

Beweggründe der peinlichsten und traurigsten Art bestimmten ihn, ein Entsagender zu werden.

Er konnte es nicht mehr ertragen, für den Ehemann einer Julia zu gelten. Ihm mochte es vorkommen, als wiese man, wo er stand und ging, mit Fingern auf ihn, als sähe er überall das Spottlächeln und hörte das Hohnzischeln. Er fand nicht den Muth – und auch das kennzeichnet seine Stellung – seine verworfene Scheinfrau bei ihrem Vater anzuklagen, oder er mußte das seiner Mutter, zu gefallen unterlassen. Aber er ertrug es nicht länger, den Schein auf sich zu laden, als billigte er den Wandel des schamlosen Weibes. Das war das eine Beschwerniß. Das ändere ergab sich aus seiner fragwürdigen, ja wohl geradezu widerwärtigen Stellung in der kaiserlichen Familie. Er war ja dazumal noch nicht der Adoptivsohn des Kaisers, sondern eben nur der Stiefsohn und darum als ein bloßer Eindringling angesehen. So ganz entschieden vonseiten der heranwachsenden Söhne der ersten Ehe seiner verhaßten Scheinfrau, welche Prinzen, wie schon erwähnt, von ihrem Großvater förmlich adoptirt waren und im Vollgefühl ihrer cäsarischen Prinzlichkeit zugleich übermüthig und neidisch auf den Stiefvater blickten.

Das alles vermochte Tiber, nicht mehr auszuhalten. Er faßte deßhalb den raschen und kühnen Entschluß, das Netz, welches ihn einengte und zu ersticken, drohte, zu zerreißen. Auch seine Mutter – und das wollte viel sagen – war nicht imstande, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, obzwar sie es sicherlich nicht an den eindringlichsten Vorstellungen fehlen ließ. Ihr mußte ja, was der Sohn thun wollte, als die Vernichtung ihrer stolzesten Hoffnungen erscheinen. Tiberius blieb fest, legte alle seine Aemter und Würden nieder, verließ Rom, schiffte sich nach Griechenland ein und nahm als freiwilliger Exulant seinen Wohnsitz auf der Insel Rhodos, um, wie er sagte, daselbst wissenschaftlichen Studien und literarischen Arbeiten zu leben. Dame oder Dirne Julia ließ er selbstverständlich gern in der Hauptstadt des Reiches zurück, sehr gern, dagegen höchst ungern seinen fünfjährigen Sohn Drusus. Augustus hatte ihm verboten, den Knaben mitzunehmen – ein schwerer Wermuthstropfen mehr in den ohnehin vollen Kelch seiner Bitternisse.

Die Insel Rhodos war zu jener Zeit eine der Lieblingsstätten hellenischer Bildung und insbesondere berühmt um ihrer philosophischen und rhetorischen Lehranstalten willen. Sieben volle Jahre, vom Jahre 5 v. Chr. bis zum Jahre 2 n. Chr., von seinem 36. bis in sein 44. Lebensjahr, hat Tiberius daselbst gelebt. In der Zurückgezogenheit eines Privatmanns, allen öffentlichen Angelegenheiten durchaus fern, nur mit literarischen Fragen und philosophischen Problemen beschäftigt. Die Klätscher und Klätscherinnen in Rom die wollten freilich wissen, er hätte in dieser „verstellten Zurückgezogenheit nur über seinem Groll, seiner Heuchelei und seinen heimlichen Lüsten gebrütet“. Allein Tacitus, welcher dieses meldet, hat sich doch gedrungen gefühlt, zu sägen, daß es nur auf widerspruchsvollem Gerede beruhte („rumoribus differebant“). Sueton seinerseits bringt aus der rhodisischen Zeit des Prinzen etliche liebenswürdige Züge von ihm bei. Mit den griechischen Poeten und Gelehrten der Insel verkehrte er in anspruchsloser Weise und ahndete auch eine ihm gelegentlich zugefügte Beleidigung in mildester Art.

Vier Jahre seiner Selbverbannung waren herum, als ihm ein Schnellsegler den Beweis brachte, daß Gerechtigkeit unter Menschen doch nicht gerade immer und überall ein bloßes Wort sei, wie sie es allerdings zumeist zu sein pflegt. Die Prinzessin Julia war endlich zu Fall gekommen. Ihre Zuchtlosigkeit, verbunden mit einem unbändigen Hoch- und Uebermuth, hatte seit Tibers Entfernung jede Vor- und Rücksicht so sehr hintangesetzt, daß ihre gräuelhafte Liederlichkeit zu einem öffentlichen Aergerniß ausgeschlagen war, welches zu grell, zu schreiend, um ihrem Vater Augustus noch länger verhohlen bleiben zu können. Der Kaiser, nachdem er alles erfahren, war im höchsten Grade erschüttert und beschämt, und man kann sich leicht vorstellen, daß die Kaiserin Livia es sich nicht eben angelegen sein ließ, seinen Grimm und Groll, seine Wehmuth und seine Wuth zu schwichtigen. Augustus schämte sich dermaßen, daß er sich vierzehn Tage lang in sein Kabinett verschloß und selbst vertrautesten Höflingen keinen Zutritt verstattete. Als er erfuhr, daß Phöbe, die Lieblingszofe Julia’s, die Mitwisserin aller Sünden der Prinzessin, sich erhängt habe, schrie er klagend auf: „O, warum ist Phöbe nicht meine Tochter!“ Im ersten Zorn hatte er kraft altrömischen Vaterrechts die Sünderin eigenhändig tödten wollen. Mit Mühe davon abgebracht, ließ er der Gerechtigkeit den Lauf. Eine Untersuchung ward angeordnet und als Ergebniß derselben ein Anklagebericht an den Senat erstattet. Die Galane der Prinzessin traf Tod oder Verbannung. Sie selbst wurde als Gefangene nach der kleinen Felseninsel Pandataria – jetzt Vandotene, eine der Ponzasinseln unfern Neapel – gebracht, dort eingethürmt und in strenger Haft gehalten, mit Auferlegung von allerlei Beschwerden, auch mit gänzlicher Entziehung feiner Kost und des Weins. Erst nach Verfluß von fünf Jahren ließ der ergrimmte Vater sich bewegen, der gerichteten Tochter ein weniger armsäliges Gefängniß anzuweisen, die Stadt Rhegium. Wieder zu Gnaden angenommen hat er sie nie.

Wenn jedoch Tiberius etwa des Glaubens war, die Katastrophe der Jutta müßte sofort eine günstige Wendung seines eigenen Geschickes, herbeiführen, so täuschte er sich. Zwar seine Ehe mit dem verlorenen Weibe lös’te der Kaiser kraft väterlicher Gewalt, aber Tibers großmüthige briefliche Fürbitten um eine Milderung von Julia’s Strafe ließ er unbeachtet und ebenso des Stiefsohns Wunsch, jetzt nach Rom zurückkehren zu dürfen.

Augustus trug es ihm nach, daß er sich selbst verbannt hatte, und außerdem lag dem Kaiser sein ältester Enkel Gajus Cäsar, welchen er sehr liebhatte, in den Ohren, daß es besser, den Stiefvater zu lassen, wo er wäre. Es bedurfte noch längerer Zeit, bis die Augusta Livia ihren Herrn Gemahl soweit herumhatte, daß ihr Sohn – im achten Jahre seines Exils – die Erlaubniß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_796.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2023)