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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

seit Tag und Tag schon hätte geschehen sollen. Ich gehe aus dem Leben mit Gedanken und Wünschen der Liebe für jenen, der mein Alles war, dem auch Du von Herzen gut bist. Und nun grüße mir die Marianna, grüße mir meinen Jörg, sag ihm, daß ich ihm danke für all seine Güte und Liebe. Es wird ihn tief in das Herz treffen, ich weiß es, aber ich kann nicht anders! Sag ihm, daß ich glücklich war. Und Dich, mein liebster Bruder, Dich küsse ich tausendmal. Wir alle, alle werden uns wiedersehen, dort, wo alle Menschen gleich sind, wo keine Schranke zwischen Liebe und Liebe steht. Und nun den letzten Gruß Deiner im Tode glücklichen – Johanna!“

Lange, lange schon hatte Luitpold gelesen, und immer noch hingen seine Augen an dem Blatte.

„Das hat sie geschrieben – ihrem jüngeren Bruder – an jenem unglückseligen Morgen!“ glitt es mit leisen, stockenden Worten von seinen Lippen. „Aber dieses Blatt – wie kommt es hierher, so augenscheinlich mit Absicht gerade hierher auf diesen Stuhl? Das sieht sich an – wie eine Mahnung! Von wem aber kann sie kommen? Es kann nur Einer noch von diesem Blatte wissen, da Jener, an den es gerichtet war –“ Vor sich niederstarrend verstummte er, dann wieder fuhr er auf und streifte die zitternde Hand über die Stirn. „Nein, nein! Ich fühl’ es! Ich bin krank! Denn mit gesunden Sinnen denkt man nicht, daß möglich wäre, was unmöglich ist. Die Todten stehen nicht wieder auf –“

Da erstarben ihm die Worte, mit einem gurgelnden Aufschrei sprang er in die Höhe, aber die Kniee wollten ihm brechen, und so sank er wieder zurück auf das Lager, die irren Blicke nach dem blassen Gesichte Dessen gerichtet, der mit einem Male vor ihm stand, regungslos, mit hängenden Armen, mit herb geschlossenen Lippen, mit Attgen, aus denen Scheu und Vorwurf sprachen.

„Du? Du? Du?“ rang es sich endlich mit bebenden Lauten von Luitpold’s Lippen.

„Ja, Luitpold, ich bin’s! Ich, der Ferdl!“

„Und Du – Du lebst!“

„Leben! Ja, leben thu’ ich! Aber wie – da drum frag’ mich lieber net.“

„Darf ich es denn glauben? Haben mich denn Alle, Alle genarrt? Hat mich denn alle Welt betrogen?“

„Keiner, Luitpold, Keiner kann mehr sagen, als er weiß. Außer mei’m Jörgenbruder und der Mariann’ bist Du der erste Mensch, der erfahrt, daß der Ferdl net im Höllbachgraben liegt.“

„Und Du bist es, dem ich mein Leben danke? Du warst es, der mich gerettet?“

„Ja, Luitpold, ich bin’s g’wesen! Und wenn ich das net anders sagen kann, als mit heller Freud’ in jedem Wörtl, so mußt net glauben, daß ich mir ’was einbild’ auf mein Zugreifen im rechten Augenblick. Ah na! Was ich z’wegen ’bracht hab’, das hätt’ jeder Andere g’rad so g’macht, den a Zufall dahin g’führt hätt’, wo a g’schwinde Hand vonnöthen war. Wann ich mit Freuden sag’: ich bin’s g’wesen – so g’schieht’s bloß deßwegen, weil ich in ei’m Schnaufer dazu sagen kann: die heutige Nacht für denselbigen Tag, und so sind wir wett mit anander, Du und ich – wann auch g’rad vor uns Zwei allein und ’leicht auch noch vor unserem Herrgott, wann er’s gelten laßt, daß sich ’s Blut im Feuer wascht.

„Nein, Ferdinand, nein, nein! So rede nicht. Was an jenem unheilvollen Tage von Deiner Hand geschah, darfst Du nicht auf Dein Herz nehmen als eine Schuld –“

Es war a Schuld! A schwere, schwere Schuld!“ fuhr Ferdl mit dumpfen Worten auf. „Wann ich Dir’s aber nur sagen könnt’, Luitpold – wann ich Dir’s nur sagen könnt’, was in mir drin g’wesen is, wie ich mein’ liebe, arme Hanni so daliegen hab’ sehen vor mir –“

„Wem sagst Du das? Wer in der Welt sollte besser verstehen als ich, was jener grausame Anblick in Dir erwecken mußte? Und wer sollte besser wissen, wie werth Johanna der Liebe war, mit welcher Du und Dein Bruder an ihr gehangen? O – es hätte dieses Todes nicht bedurft, um mich erkennen zu lassen, was sie mir galt und was ich an ihr verlor. Wir gehörten uns an vor Gott – und in seliger Hoffnung sah ich schon der Zeit entgegen, in der wir uns auch angehören sollten vor den Menschen. An jenem unheilvollen Morgen war es, da hab’ ich mit meiner Mutter gesprochen, und mit Freuden hat sie mir das Ja gesagt. War ihr doch Johanna längst schon wie eine Tochter, unserem Namen ebenbürtig durch den Adel ihres Herzens und ihrer Seele! Doch als ich Johanna suchte, um ihr die freudige Botschaft zu bringen, hatte sie das Haus verlassen. Eine jähe Angst befiel mich, als ich auf ihrem Pulte einen Brief mit meinem Namen fand. Doch als ich gelesen hatte, war alle Angst und Sorge verschwunden. In Worten von herzberauschender Innigkeit sprach sie zu mir in diesen Zeilen von ihrer tiefen, unverbrüchlichen Liebe. Sie wüßte, welch eine starre Schranke den Edelmann von dem Kinde des Dorfes schiede. Und so wollte sie mir den Kampf zwischen Pflicht und Liebe ersparen. Es stand in diesen Zeilen kein Wort, das nur die leiseste Ahnung ihres fürchterlichen Entschlusses in mir hätte erwecken können. Wohl sprach sie vom Gehen, von einem Abschied für immer und ewig – aber ich dachte dabei nichts Anderes, als daß sie zurückgekehrt wäre in ihre Heimath. In fliegender Eile rüstete ich mich zur Reise, ich wollte ihr folgen und war schon auf der Schwelle meines Zimmers – da standest plötzlich Du vor mir – und als ich Deine wie im Wahnsinn glühenden Augen sah, Deine schmerzverzerrten Züge, da zuckte jählings die entsetzliche Ahnung in mir auf – o, ich war von Deinen Worten schon zu Tode getroffen, noch ehe Deine Hand sich wider meine Stirn hob.“

Erschauernd in Schmerz und Weh bedeckte Luitpold das Gesicht mit beiden Händen. Die Kniee begannen ihm zu zittern, und er drohte niederzustürzen vor Schwäche und Erschöpfung.

„Luitpold! Luitpold!“ schluchzte Ferdl, sprang auf ihn zu und fing ihn auf in seinen Armen.

Lange saßen sie wortlos Seite an Seite auf dem Lager.

„Na! Na! Errathen hätt’ ich’s doch müssen, wie Alles is und war!“ brach Ferdl endlich mit bebenden Worten das bange Schweigen. „Aber wie ich selbigsmal der Hanni ihren Brief g’lesen hab’, da hat mich der Gram völlig blind g’macht. Später ’naus freilich, wie ich hundert und hundertmal den Brief wieder g’lesen hab’, da hab’ ich mir oft denken müssen, alles wär’ anders, als ich g’meint hab! Und wie ich jetzt bei Dir das Kapserl g’funden hab’ – mit der Hanni ihrem lieben Bildl, da hab’ ich mir gleich g’sagt, daß Du kein ungut’s G’wissen haben kannst – sonst thätst doch so a Mahnung an Dein’ Schuld net noch an der Ketten um Dein’ Hals ’rum tragen. Freilich, freilich – da schaut sich mein Schuld jetzt noch hundertmal ärger an. Aber kannst mir’s glauben – woltern hab’ ich ’büßt dafür! Wie ich den fürchtigen Sprung über’n Höllbach gewagt hab’, und wie’s mich niederg’rissen hat über’s gache G’schröff, da hat sich ’s Sterben für mich schier ang’schaut wie an Erlösung. Den ersten Auffall hab’ ich noch g’spürt, und wie’s mich hin und wider wirft von einer Platten zur anderen, nachher is mir d’ B’sinnung g’schwunden, und ich weiß nix mehr von mir bis zu dem Augenblick, wo ich auf amal wieder derwach’ und g’spür, daß ich auf festem Boden lieg’, tropfnaß am ganzen Leib, schier starr vor Kälten, und daß ’s Wasser wegrauscht über meine Füß’. Kaum hab’ ich mich aufheben können, wie derschlagen war Alles in mir, und dengerst hab’ ich nach a paar Stund’ meine Arm’ und Füß’ ganz richtig brauchen können. Und so bin ich dag’sessen, Stund’ um Stund’, unter mir der wilde Höllbach, über mir a G’wänd und G’stein, wo einer fliegen hätt’ können müssen, wann er ’nauf hätt’ mögen in d’ Höh! Schon hab’ ich drüber nachsinniert, wie man sich ’s Derhungern leichter machen könnt’, da vermerk’ ich auf amal, daß an dem Platzl, wo ich g’legen bin, a G’höhl in Berg ’nein geht. Da hab ich mich aufg’macht, hab’ mich weiter’tappt und weiter in der Finstern, von ei’m G’höhl bin ich ins ander’ ’kommen – und ninderst, ninderst hab’ ich an Ausweg g’funden. Und es muß doch einer da sein, hab’ ich mir allweil g’sagt, weil ich überall und überall an frischen Zugluft g’spürt hab’. Und so hab’ ich net aus’lassen mit’m Suchen – aber wer weiß, ob ich ’nausg’funden hätt’, wann ich net in ei’m schmalen Felsengang, grad wie ich schon wieder umkehren hab’ wollen, a Fledermaus hätt’ aufflattern hören. Das Thierl is mein Engel g’wesen! Mit aller G’walt hab’ ich mich durchg’arbeit’ durch’s G’stein – und auf amal, da hab’ ich d’ Lichten schimmern sehen – und nachher bin ich draußen g’standen unter der lieben Sonn’, z’mittelst d’rin in die dicksten Latschen.“

Aufseufzend verstummte er und starrte, in Erinnerung versunken, vor sich nieder.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_846.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2023)