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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

in ihrer. Groß und schlank und gewachsen wie eine Tanne, die Augen so klar und blitzend, und so frisch das ganze Wesen, so – mit einen Worte – kerngesund.

Ein Prachtjunge! Er war gerade fünfundzwanzig Jahre damals.

Ilse wollte nicht zum Abendessen bleiben. Sie band sich ihr Mäntelchen um und empfahl sich bald. Als wir aber in der Hinterstube beim Rehbraten saßen und die Gläser, mit altem Rothwein gefüllt, sich trafen, da lugte ihr dunkles Köpfchen wieder zur Thür herein.

„Darf ich stören?“ fragte sie in ihrer lieblichen Weise. „Mama hat Kopfschmerzen und liegt zu Bette; ich bin so allein drüben.“

Und nun saß sie zwischen mir und Ernst und hörte geduldig an, wie er von seiner kränklichen Mutter sprach, von seinen Studien, von seiner jetzigen Stellung und von allerhand Familienerlebnissen. Als es zehn Uhr schlug und die Ilse sich zum Aufbruch rüstete und ich sie, wie immer, hinüberbegleitete, schloß er sich an und wir wanderten im blassen Mondenschein durch die einsame Straße nach der Probstei hinüber. An der Thür wandte sie sich noch einmal um, und ihre Augen suchten Ernst; es war ein scheuer glücklicher Blick, ich hab’s so deutlich gesehen und wunderte mich, habe aber nicht weiter darüber nachgedacht. Wenn ich es mir später vergegenwärtigte, so ist mir immer eine Schuppe nach der andern von den Augen gefallen. Aber damals? Ich sah in dem Kinde eben nur die Tochter der vornehmen Frau, eine künftige Gräfin oder Hofdame oder sonst etwas Aehnnliches. Der hübsche Junge erschien mir ebenso ungefährlich, wie er der Gräfin erschien, die en passant durch die Komtesse oder durch mich von meinem Hausbesuch erfuhr. Wer steckt denn aber in solch jungem Volk?

Ilse kam noch öfter während der vierzehn Tage, die er in unserem Hause verlebte, und sie sprachen mit einander, hübsch und nett, über lauter arg vernünftige Sachen. Er schwärmte für Grillparzer und deklamirte ihr hier und da eine Stelle, und sie horchte auf mit leuchtenden Augen und versprach, ganz gewiß die Werke lesen zu wollen. Ob sie sonst noch etwas geredet am brennenden Kachelofen in Line’s traulicher Stube – ich weiß es nicht, mit harmloseren Blicken als ich konnte kein Mensch diese Beiden betrachten.

Dann war er fort. Er hatte mir so sonderbar und lange die Hand geschüttelt und von baldigem Wiedersehen gesprochen. Ilse aber erschien mir, als sei sie gewachsen, als seien ihre Augen glänzender geworden. Sie saß stiller als sonst hinter ihrer Weihnachtsarbeit meiner Frau gegenüber. Wenn sie je früher eine übermüthige kleine Aeußerung gethan hatte, so von der Höhe ihrer Geburt herab, so war sie jetzt mäuschenstill von solchen Dingen, nur einmal sagte sie etwas wie: der Adel liege im Menschen selbst, er käme von innen heraus aus der Seele: das angeerbte Wappen sei noch nicht allemal Bürgschaft für den Adel der Seele.

Zwei weiche zitternde Mädchenarme schlangen sich um meinen Hals. (S. 853.)

„Herr Jesus!“ rief Line erschreckt, „Komteßchen Ilse, sagen Sie das nicht der Mama!“

Da schlug sie die Augen auf unnd fragte ernsthaft: „Warum nicht? Ich habe den Muth, ihr noch viel mehr zu sagen.“

„Nun,“ scherzte meine Frau, „in sechs Wochen denken Sie anders, wenn Sie erst einmal mit den jungen Xschen Prinnzen über das Parkett im Schlosse geflogen sind.“

„Wer weiß es !“ erwiderte sie leise.

So kam das liebe fröhliche Weihnachtsfest heran. Am Tag vor dem heiligen Abend sah ich die Maruschka auf der Straße, die unter der Last von zwei mächtigen Kisten seufzte.

„Nun, nun,“ redete ich sie an, „da kommt ja das Christkind sehr reich!“

„Für die Komtesse,“ erwiderte die Alte, „und was schon Alles da ist, eine Ausstattung wie für ’ne Braut, und ein deckenhoher Tannenbaum dazu!“

An der Ecke des Postgebäudes aber kam mir die Komtesse selbst entgegen. Als sie mich erblickte, schien es, als wollte sie in eine Nebengasse biegen, jedenfalls fuhr die kleine Hand blitzschnell mit einem Brief in den grauen Fehmuff, und unter dem Filzhütchen hervor, vom blauen Schleier umweht, schaute ihr liebes Gesicht dunkelroth zu mir herüber. Nun, vor Weihnacht hat Jeder seine Heimlichkeiten. Sie reichte mir auch nur ihre Linke und sah an mir vorbei in ein Schaufenster; ich fühlte, wie die Hand zitterte.

„Ich komme wie immer heute Abend, lieber Herr Doktor, und hole mir das Marzipanherz,“ sagte sie. „Um sechs Uhr bin ich zur Stelle, um acht erst beschert Mama.“

„Da wird’s was geben!“ neckte ich, im Begriff weiter zu schreiten. Aber sie hielt mich fest an der Hand, und als ich sie aufmerksam betrachtend stehen blieb, war es mir, als ob sie sprechen wolle.

„Nun, Komteßchen?“

„Heute Abend!“ stammelte sie und schritt so hastig fort, daß ich ihr kopfschüttelnd nachsah.

Als ich in der Dämmerung heimkehrte von der Praxis, roch es schon süß weihnachtlich im Hause nach frischen Kuchen, Tannengrün und Wachslichtern. In der Küche stannd die Line und schuppte Karpfen zum festlichen Schmause.

„Fertig mit Allem!“ rief sie mir frühlich entgegen, „nur der fatale Schuster läßt mich diesmal sitzen. Na, aber es ist noch eine Viertelstunde bis sechs Uhr. Alter, Du mußt in den Keller, ich hab’ eine Ahnung – glaub’s mir, der Ernst kommt.“

Ich zog den Hausrock an und stieg in den Keller. – Ich kann nicht sagen, wie heimlich mir die Weihnachtsabende immer gewesen sind, und wie traulich sie meine Line zu machen versteht. Ich wußte ja, daß an jedes arme Krankenbette heut ein freundlicher Gruß von ihr getragen war; ich wußte, daß Viele heut unseres Hauses mit dankbaren Herzen gedachten, daß Alles, was uns nahe stand, erfreut wurde, bis auf den Hektor herunter, der sein Bratwürstchen unter dem brennenden Baume finden würde. Ich freute mich auf des Komteßchens blaue Augen, es gab doch immer einen Spaß, und auf die Kiste des Studienfreundes, der ich jedes Jahr einen westfälischen Schinken nebst Pumpernickel entnehmen durfte. Und ich freute mich auf die behagliche Stunde, wo ich neben meiner Line auf dem Sofa sitzen und die Flämmchen des brennenden Baumes sehen und schwatzen konnte von fernen Tagen und von den Weihnachtsabenden des Elternhauses.

Ja, man soll sich nur freuen!

Es schlug sechs und halbsieben Uhr – Ilse kam nicht.

„Sie wird soviel zu schauen haben drüben,“ meinte Line, „ich zünde immer an.“ Sie verschwand in der Weihnachtsstube und klingelte dann. Aber ich stand mit seltsamer Unruhe in dem kerzenhellen Zimmer; ich horchte hinaus, es fehlte mir Etwas.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 852. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_852.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2024)