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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Und Bettelstolz zu treiben, war er zu klug. Er freute sich wie ein Kind auf die Stunde, da er das liebe Wesen, dem er so oft im Zimmer gelauscht, dessen veränderte Stimme jüngst noch in der Kirche sein Herz ergriffen, nun auch auf dem zauberumflossenen Gerüste der Schaubühne bewundern sollte.

Ob es ihm seine Geschäfte erlanben würden, die Reise zu machen? . . . Zum Teufel auch, wofür arbeitete er denn! Doch nicht bloß für des nackten Lebens Nothdurft; auch für ein menschenwürdiges Dasein und ein bischen Glück! Daß die Stunde des Wiedersehens Glück für ihn sein würde, das wußte er, und er hoffte dazu, daß diese Stunde nicht nur für ihn Glück bringen und ferneres Glück verheißen werde.

So froh, so aufgeräumt, so leutselig hatten ihn die Herren auf seinem Komptoir lange nicht gesehen. „Ja, ja!“ sagten sie untereinander, „es geht wieder in die Höhe mit den Sperbern. Langsam und bedächtig, aber in die Höhe geht’s. Es war eine gute Idee von unserem Baron Edgar, sich mit den Pfaffen in Geschäftsverbindungen zu setzen. Die Schwarzen bringen immer Glück! d. h. wenn sie Einem wohlwollen. Die Welt gehorcht ihnen doch, wissend oder nicht. Und auch in Handel und Wandel rühren sie ihre Hände und kennen ihren und ihrer Freunde Vortheil. Na, uns kann’s ja nur recht sein. Wenn die Principale lachen, brauchen die Commis nicht zu weinen.“

In der That, das, was man auf der Hamburger Börse und auf dem Jungfernstieg einen reichen Mann nennt, war Edgar von Sperber noch lange nicht wieder; aber was man sich in der Josefstadt unter einem armen Teufel vorstellt, war er noch viel weniger, und wenn es nun, da die schlimmsten Monate der rastlosen Anstrengung überstanden waren, ihn gelüstete, eine Woche lang anderswo seinem Herzen eine Freude zu machen, so durfte er sich diesen Luxus bereits gestatten.

Rasch vergingen die letzten Wochen, und eines schönen Oktobertages las man in der Stadt der Mönche einen neuen Namen auf dem Theaterzettel, der die Oper „Faust“ von Gounod ankündigte.

Die Oper hatte eine Weile geruht, weil der geniale Liebling des Publikums, welcher ein Jahrzehnt lang die Rolle der Margarethe verkörpert, der Bühne entsagt hatte und es seitdem für ein Wagstück galt, sich mit Erinnerungen an jenen Stern in einen Wettkampf einzulassen. Und nun kam aus Wien so eine Anfängerin daher, ei, ei, das mußte ein keckes Talent sein! Sie wird einen schweren Stand haben! Freilich, man kann die beliebte Oper nicht ewig ruhen lassen. Aber einen schweren Stand wird sie haben, diese Scandrini oder wie sie sonst heißen mag.

Das riesige Haus war gedrängt voll. Die Erwartungen waren hoch gespannt. Das große Publikam brachte dem Neuling nichts weniger als ein günstiges Vorurtheil entgegen. Bianca hatte im ganzen Zuschauerraum keinen persönlichen Bekannten als ihren Vetter, Edgar von Sperber und mich, welchen Pater Otto als alten Seminarkollegen aufzusuchen für gut befunden. Ihre älteste Schwester, die sie bemutterte, hielt ihr hinter den Koulissen die Daumen. Schon die Proben hatten sie halbtodt geängstigt.

Und drinnen war es, als wehte ein eiskalter Hauch über die vielköpfige Menge, als käme die Kirmeß auf der Bühne nicht in Fluß, als klebten die Füße der Tänzer wie geleimt auf den Brettern, und als hätte unser alter Faust seinen Verjüngungstrank ohne jede Wirkung eingenommen. Ich sah, wie ein paar flotte Gewohnheitsbesucher sich schadenfroh zuzwinkerten, als wollten sie sagen: das ist ja heute die rechte Stimmung, um es dem naseweisen Eindringling zu schmecken zu geben, wie wir unseren alten Lieblingen dankbares Gedächtniß bewahren. Na, paß mal auf! Du sollst was erleben!

Ich kannte die stumme Sprache dieser Edlen. Ich kannte diese Stille, die dem Sturme voraufgeht. Und mir ward bang um Bianca Scandrini.

Als aber dies liebliche Wesen, so recht sittsam und fromm, wie ein deutsches Bürgermädchen einer mittelalterlichen Reichsstadt, aber mit allem natürlichen Geschick einer klugen Wienerin gekleidet und mit diesem himmlischen, blondumschimmerten Gesicht, so ganz, wie man sich Goethe’s Gretchen in glücklichen Träumen ausmalt, auf die Bühne trat, da flogen in fröhlichem Erstaunen ihm alle Herzen zu.

Und als diese wohlgeschulte Stimme, bebend vor Schüchternheit und Erregung, so ganz im Tone des Augenblicks, die Worte gesungen hatte: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn!“ da zuckte eine Freude durch die pochenden Herzen, und die Kenner sahen sich bedeutsam an, und beifällig nickten die kahlen und die struppigen Köpfe.

Noch nicht die Schlacht, aber das Vorpostengefecht war glänzend gewonnen. Das Publikum wußte nun, daß es mit einer Künstlerin zu thun hatte, die ernsthaft genommen werden wollte. Das mißgünstige Vorurtheil, das, aus alten Erinnerungen an frühere Großen und aus landläufigem Argwohn gegen Fremde gewoben, zwischen den Zuhörern und der Bühne brütete, war zerrissen und verjagt. Bianca hatte freie Bahn, zu siegen, wie sie’s aus eigener Kraft vermochte.

In den großen Liebesscenen des folgenden Aktes überraschte Bianca’s Gretchen auch uns Drei, die wir von ihr Anerkennenswerthes erwarteten, aber auf dies süße Feuer in Spiel und Gesang denn doch nicht vorbereitet waren. Kein Mensch im Hause wollte glauben, daß man es mit einer Anfängerin zu thun habe, und meine guten Freunde lachten mir ins Gesicht, als ich versicherte, ganz bestimmt zu wissen, daß dies Mädchen heute zum ersten Mal auf der Bühne stünde.

Jede Bewegung war von einer Sicherheit, von einer Ungezwungenheit, die auf Alle überzeugend wirkte. Solcher Nachahmung der Natur, mit solch künstlerischem Maß gepaart, hielt man einen Neuling nicht für fähig. Der Triumph der Schauspielerin war vollendet.

Aber auch die Sängerin riß das Publikum sammt den Kennern darin zu rauschendem Beifall hin. Der natürliche Wohlklang bewegte Jeden im „König von Thule“ und in den folgenden Scenen, ihrer Geläufigkeit im Schmuckwalzer waren wir ja sicher, aber wenn nun in den folgenden Scenen die Stimme hier und da auch heiliger zitterte, als die Sängerin wollte und die Darstellerin beabsichtigte, wenn sich die Stimme im Duett mit Faust etwas verschleierte und in den Augenblicken hingebenden Entzückens sogar einige Töne selbst von mir nicht mehr gehört wurden, so legten die Leute, die nun einmal im Zuge des Wohlwollens waren, das Eine als Zeichen der Erregung aus, die bei einem ersten Auftreten doch so begreiflich sei, das Andere als Mangel an Kenntniß der akustischen Verhältnisse des großen Hauses, in das man sich erst eingewöhnen müsse. Und der Beifall, mit dem man schon nach den einzelnen Nummern und Scenen nicht gekargt hatte, wuchs nach dem Aktschluß zu einem wahren Sturm. Bianca mußte sechs Mal vor den Lampen erscheinen. Das Publikum freute sich, wieder eine Sängerin zu besitzen, die mon mit Recht lieb haben, verehren und verhätscheln durfte. Und die Loge des Intendanten ward in dem Zwischenakt nicht leer von redlichen Leuten, die ihm zu dieser neuen Erwerbung für unser altes Theater ihre Glückwünsche ausdrückten.

Eigenthümlich berührte mich die Wirkung der Kirchenscene im nächsten Akt. Es schien mir, als wenn Dekoration und Umgebung von ungemeinem Einfluß auf die Scandrini wären. Der Kirchensängerin mochte die Erinnerung an den geweihten Ort, wo sie sich von langem Druck äußerer und innerer Hemmnisse befreit und als Künstlerin wiedergefunden hatte, unerwartete Hilfe geben. Sie war wieder weit mehr Herrin ihrer Mittel, als am Ende des vorigen Aktes. Die Leistung durfte vollkommen genannt werden und sie riß das Publikum hin.

Damit aber war die schon überreizte Kraft erschöpft. In der Kerkerscene des letzten Aufzuges mochte man immerhin die Kunst der Darstellung anerkennen, der Gesang war matt, das Organ schwankte, die hohen Tone gellten, die Mittellage klang gepreßt, der Wohlklang war wie weggewischt, und wer Bianca nicht zum ersten Mal hörte, konnte wohl merken, wie im Entsetzen über das Verlassen der Kraft und in der steigenden Angst davor die ganze Auffassung und Wiedergabe ins Unsichere gerieth und der Mensch immer deutlicher hinter seiner Rolle heraustrat.

Der verliebte Sperber gewahrte davon natürlich nichts. Er saß da wie etwa ein Kind vor einem Weihnachtsbaume, der eine Singstimme gekriegt hätte. Auch im Publikum fehlte es nicht an solchen, welche in den Fehlern Bianca’s nur ein übertriebenes Raffinement der Auffassung sahen. Eine Wahnsinnige sänge eben anders als eine Gesunde. Darüber ließe sich streiten. Die allgemeine Meinung ging dahin, daß die Scandrini, von einigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_875.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2023)