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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Kutscher geworden, der die Pferde an- und abspannen konnte und mit ihm zu dem Schmiede Papendiek unten in der Hafengasse oder in die Schwemme draußen vor dem Schwedenthore ritt. Das ist alles so kurze Zeit her – als wenn es gestern gewesen – und Karl Brinkmann ist in Hemdärmeln und kann pfeifen, während er den Wagen wäscht, auf dem er Gustav Hopp nach dem Kirchhof gefahren vor dem Schwedenthore!

Was dem kleinen Träumer da oben durch den Kopf geht? Er bringt es nicht recht zusammen, aber eine Ahnung der Vergänglichkeit des Irdischen mag es doch gewesen sein, wohl erklärlich und begreiflich bei dem Zehnjährigen, der eben erst aus einer schweren Krankheit erstanden ist, in welcher er so wunderliche Dinge geträumt, und dem die Großmutter in ihrer häßlichen Weise erst gestern gesagt hat, der kleine gelbe Sarg, der eben fertig in der Ecke von Vaters Werkstatt stand, sei für mich gewesen, und es sei schade, daß er nun leer bleiben sollte.

Ich habe dem Vater die bösen Worte der Großmutter weinend wiedererzählt, und er hat mich in seiner milden Weise beruhigt: die Großmutter meine es nicht so schlimm; sie meine überhaupt gar nichts, denn sie habe einen schwachen Kopf und rede nur, um zu reden. Den kleinen gelben Sarg aber habe er auf Vorrath gearbeitet, und leer werde derselbe wohl nicht lange bleiben: es stürben heuer gar viele Kinder.

Ist es der Gedanke an den immer Gütigen und Liebevollen, den ich in der Werkstatt zu finden sicher bin; oder bin ich des Umherschweifens oben auf dem sonnigen Wall müde – ich gehe den schmalen abschüssigen Pfad durch unser Gärtchen, in welchem es süß nach Reseda duftet, hinab in den Hof, mich der schattigen Kühle freuend, die mich da umfängt. Es ist in meiner Erinnerung immer schattig und kühl in dem schmalen Hof, denn auf der einen Seite ragt die kahle hohe Hinterwand von Nachbar Hopp’s Wagenremise mit dem steilen Dache darüber, und auf der andern steigt über des Vaters Werkstatt und dem Holzschuppen die Mauer von Nachbar Israel’s Kornspeicher noch viel höher, kahler und steiler empor. In Wirklichkeit ist der so eingeschlossene Raum wohl etwas dumpf und feucht gewesen und erfüllt von einem leichten Modergeruch, der aus dem mit Gras und Lattich hier und da übersponnenen Pflaster, den frisch geschnittenen Brettern, den verrottenden Spähnen und den Oelfarbetöpfen aufstieg. Aber ich weiß nichts davon, vielmehr athme ich den Duft mit Behagen ein, und ich brauche nur die Augen zu schließen und mir den Duft zurückzurufen, um mich im Geiste an den Ort zu versetzen und in die wohlige Empfindung, mit der ich an jenem Morgen aus der Sonnenhelle oben in den kühlen Schatten des Hofes trete.


3.

Der Vater ist in der Werkstatt und ich sehe ihn durch die jetzt im Sommer stets offene Thür ein Brett hobeln. Er ist allein; mein ältester Bruder Otto, den er sich zum Gehilfen und Gesellen heranzieht, wird eine Kommission in der Stadt haben. Das Brett, an welchem der Vater hobelt, ist die Rück- oder Vorderwand eines Sarges. Der Vater arbeitet fast nur Särge; er hat in der Stadt dafür das Monopol, welches er, wie er mir selbst gesagt, der Nachbarschaft des Fuhrherrn Hopp verdankt. Denn weil man nothwendig den Leichenwagen von Herrn Hopp nehmen muß, da es kein anderes Geschäft der Art in der Stadt giebt, bestellt man gleich den Sarg nebenan bei Tischler Lorenz: es ist dann nur ein Weg. Auch fragt es sich, ob Nachbar Hopp die Leiche fahren würde außer in einem Sarge von Nachbar Lorenz. Die Särge aber sind unweigerlich gelb, während sie, bevor mein Vater in die Stadt kam, ausnahmslos schwarz Waren. Er hat die Mode eingeführt. Er meint, der Tod sei ohnedies, wenn auch nicht für den Todten, so doch für die Zurückbleibenden traurig genug und das Grab dunkel genug; so möge der Todte über und unter der Erde ein freundliches Haus haben. Deßhalb ist auch jeder Sarg, der aus seiner Werkstatt kommt, ein kleines Kunstwerk mit zierlichen Hohlkehlen, Knäufen und sonstigen schmuckhaften Zuthaten, die man nicht bestellt hat und auch nicht bezahlt, und die er deßhalb mit Vorliebe gerade an den Särgen der armen Leute anbringt.

Ich gehe nicht direkt in die Werkstatt, sondern sehe erst nach meinen Kaninchen, denen ich an der Ecke des Hofes (da, wo die Werkstatt an das hölzerne Gartengitter stößt) eine Wohnung bereitet habe, in welcher meine Augen den Triumph der Erfindsamkeit erblicken. Der Haupttheil besteht aus einer großen umgestülpten Kiste, deren Vorderwand sich in der oberen Hälfte aufklappen läßt, so daß man einen vollen Einblick in den Familiensaal hat, ohne daß doch die Bewohner ohne Weiteres heraus können. In der Hinterwand aber ist unten auf jeder Seite je eine viereckige Thür, durch welche man, das heißt die Kaninchenfamilie, in die eigentlichen Wohnräume gelangen kann, die sich in einer zweiten, aber flacheren Kiste befinden. Das Ganze ist mit Erde und Rasen bedeckt, so daß es als ein kleiner grüner Berg erscheint, auf welchem auch Blumen wachsen; dazu sind die Pflastersteine unten entfernt und so der minirenden Thätigkeit der Bewohner keine Schranke gesetzt, was sie sich denn auch durchaus zu Nutz und geheimnißvolle Hinter- und Ausfallspforten in das Wallgärtchen gemacht haben, durch die sie aber nur des Abends und mit großer Diskretion schlüpfen, zu meiner größten Verwunderung und zum Ergötzen des Vaters, der mit mir seine Freude an den Thierchen hat, wenn sie im Halbdunkel zwischen den Büschen herumhuschen. Daß er sie während meiner Krankheit gemeinschaftlich mit meinem Freunde Emil Israel treulich gepflegt und abgewartet hat, versteht sich für mich von selbst.

Ich habe ihnen jetzt das vom Walle mitgebrachte frische Futter gegeben und gehe zum Vater in die Werkstatt. Er nickt mir freundlich zu und fährt in seiner Arbeit fort; ich setze mich ermüdet still hin und blicke unverwandt in sein liebes Gesicht, als ob ich es noch nie gesehen hätte, und ich glaube, ich habe es an diesem Morgen im eigentlichen Sinne wirklich zum ersten Male gesehen. Denn, wenn ich jetzt des guten Mannes denke, erscheint mir sein Bild sicherlich stets, wie ich es zu jener Stunde sah, während ein schräger Sonnenstreifen, in welchem Millionen Staubatome tanzen, über dem Dache von Nachbar Hopp’s Wagenremise durch die beiden oberen, in allen Farben schillernden Scheiben des verstäubten Fensters in der Werkstatt fiel und, wenn er sich gelegentlich von seiner Arbeit aufrichtete, um die Kante des Brettes, an welchem er hobelte, zu prüfen, seinen Kopf streifte. Der Kopf erglänzte dann aber in dem Sonnenlichte, denn er war ganz kahl bis auf einen schmalen Kranz grauen krausen Haares, von dem ich jetzt, wo er mir das Gesicht zuwandte, nichts sah, als je einen Tupfen über den Ohren. Das schmale blasse, in der unteren Hälfte von einem grauen krausen Bart bedeckte Gesicht hatte stets einen ernsten, aber keineswegs wehmüthigen oder kummervollen, vielmehr eigentlich heiteren Ausdruck, besonders wenn er, was sehr oft, aber immer nur für Momente, geschah, lächelte, wobei sich dann um die Ecken der hellblauen Augen, die fast keine Brauen hatten, kleine freundliche Fältchen zogen, welche mit dem Lächeln gleich wieder verschwanden. Die Augen waren groß, aber für gewöhnlich halb von den Lidern bedeckt, was mit daher kommen mochte, daß sie so viele Stunden auf die Arbeit gesenkt blieben. Wenn er sie aufschlug, hatten sie einen zugleich träumerischen und erstaunt fragenden Ausdruck, wie ich ihn später nur noch in Kinderaugen beobachtet habe. Kein Wunder freilich, da keines Kindes Seele reiner und harmloser sein konnte, als dieses guten Mannes, der so viel erduldet hatte und erduldete, ohne daß die Fülle seiner Liebe auch nur durch einen Gran von Menschenhaß abgemindert, oder die Taubenfrommheit seiner Seele durch ein Minimum von Schlangenklugheit getrübt worden wäre.

Und diese guten Augen mit dem träumerisch erstaunt fragenden Blick richtet er nun auf mich.

„Wo bist Du gewesen, Kind?“

Er nennt mich immer „Kind“, im Gegensatz zu meinen Geschwistern, die so viel älter sind als ich und die er stets bei ihren Vornamen nennt.

Ich fange an, meine kleinen Erlebnisse zu erzählen, und unterbreche mich, weil ich bemerke, daß der Sarg, welcher nach Aussage der Großmutter für mich bestimmt gewesen ist, sich nicht mehr in der Werkstatt befindet.

„Ich sagte Dir ja, er würde nicht lange leer bleiben,“ erwidert der Vater auf meine Frage, „und es ist ein recht trauriger Fall, aus dem Du auch lernen kannst, Kind; denn Dir hätte dasselbe schon hundertmal passiren können.“

Ich höre mit gespanntester Theilnahme, was nun der Vater berichtet.

(Fortsetzung folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_007.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2024)