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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Und kaum anderthalb Jahre später verheirathete sich mein Vater zum zweiten Male.

„Sie ist erst achtzehn Jahre, Großmutter,“ entschuldigte ich das Mädchen.

„Und Du bist schon eine Greisin, nicht?“ fragte die alte Dame. „Zweiundzwanzig Jahre sind allerdings ein Alter.“

„Aber ich kenne die Welt, die Lotte jetzt verlassen muß, jetzt, wo sie gerade so verlockend vor ihr liegt.“

„Freilich, es ist hart!“ bestätigte die Großmutter und sah in die stille vornehme Straße hinab, in der unsere Wohnung lag. „Aber,“ setzte sie wie verloren hinzu, „es ist das schlimmste noch nicht. Es ist weit schlimmer, hier zu sitzen und unter den Augen Derjenigen zu darben, die uns einst in besseren Tagen gesehen; es giebt überhaupt noch tausendmal Schlimmeres. Wenn man so alt geworden wie ich, weiß man das.“ Und sie nickte still vor sich hin. „Wer muß, hat keine Wahl,“ fuhr sie fort. „Morgen wollen wir überlegen, welche Meubel wir mitnehmen dürfen und können; das andere wird verkauft.“

Jetzt war es doch, als schwanke ihre Stimme. Ach, ob es nicht auch wehmüthig genug ist, auf die alten Tage noch in das Elend zu gehen, wenn man ein langes Leben ohne zu darben verbrachte? Der Hans, er war an allem schuld. Schuld, daß wir mittellos dastanden, schuld, daß der Vater todt, schuld, daß sich zwei unversorgte Mädchen wie Kletten an eine alte Frau hingen, die sonst, allein für sich, ohne Noth ihre Tage hätte beschließen können. Mit Gewalt stürmte der Gedanke auf mich ein: Das darfst Du nicht! Du mußt Dir selbst helfen!

„Großmama,“ begann ich rasch, „ich gehe nicht mit nach Rotenberg; ich werde – ich will irgend eine Stelle annehmen; Du weißt, ich habe auch hier den Haushalt geführt.“

Sie schüttelte den grauen Kopf. „Nein, Tone, Dich kann ich nicht entbehren, Du mußt bei mir bleiben. Und Lotte – die ist noch lange nicht reif dazu, und überhaupt – so lange ich sorgen kann, sorge ich; Gott wird weiter helfen. Ihr bleibt Beide bei mir. Geh’ nur jetzt und sieh, daß sich Lotte nicht aus einander weint, der Kindskopf.“

Ich fand sie aber nicht weinend. Sie hatte mit fieberhaft rothen Wangen einen Band von Meyer’s Konversationslexikon vor sich, und mich erblickend rief sie: „Da, Tone, höre, staune! ‚Rotenberg, Kreis X, Regierungsbezirk Y, Landstädtchen von fünftausend Einwohnern‘ – Tone, fassest Du es, fünftausend Einwohner ‚Treibt Ackerbau und Viehzucht; hat eine Realschule, zwei Kirchen und eine Nähnadelfabrik‘ – Himmel, eine Nähnadelfabrik und, o Wunder! – ‚ein fürstliches Schloß mit schönem Park. steht jedoch völlig unbewohnt, seit 1815 die Residenz nach Kerrbnrg verlegt wurde.‘“

Sie hatte in steigender Erregung gelesen. „Daß sich Gott erbarm! Dort soll ich mich vergraben!“ rief sie nun.

„Es kann ja ganz niedlich dort sein?“ begütigte ich sie.

„Ganz niedlich? Du gute Seele! Ich finde, daß das, was man für gewöhnlich ‚ganz niedlich‘ nennt, immer recht langweilig ist.“

„Paß auf, Prinzeßchen, es wird besser, als wir denken.“

Sie antwortete nicht; es lag wie Hohn um ihre Lippen.

„Ich gehe jetzt auf den Kirchhof,“ sagte ich. „Willst Du mit?“

Sie stand auf, nahm, ohne ein Wort zu erwidern, den Hut, der bald wie ein schwarzer Heiligenschein das Gesicht umrahmte, strich sich vor dem Spiegel die dunklen Lockchen, die tief über die Stirn fielen, zurecht und ergriff die Handschuhe. Finster, mit zusammengezogenen Brauen ging sie neben mir, und doch flogen unzählige Blicke bewundernd zu ihr hinüber; ich selbst konnte es ja nicht lassen, sie immer wieder anzuschauen. Ja, meine Schwester Lotte war unbestritten das lieblichste, anmuthigste Geschöpf unserer ganzen Großstadt; so meinte ich, so meinten wir Alle, und ich glaube fast – sie selbst auch. Sie war des Vaters Liebling gewesen, unser Aller Verzug, das Prinzeßchen, wie sie bei uns hieß von dem Tage an, wo sie in den kleinen Schuhen zum ersten Male so reizend zierlich durch die Stube trippelte. Von je her war ich mir, ihr gegenüber, wie eine Mutter vorgekommen, sorgend und wachend, aber auch staunend, daß dies feine Geschöpfchen meine Schwester sei.

Sie erwiderte meine leidenschaftliche Zärtlichkeit wohl, aber nach Art verwöhnter Kinder, die fühlen, daß sie uns völlig in der Gewalt haben, mit Launen und Thränen und mit gelegentlichen stürmischen Liebkosungen. Sie erreichte damit Alles. Ihre ernsthafte schwärmerische Zuneigung aber koncentrirte sich nach dem Tode ihrer Mutter auf Hans; die Beiden standen wie eine geschlossene Mauer dem Vater, der Großmutter und mir gegenüber. Es war, als habe ich nicht das mindeste Anrecht darauf, mich „Schwester“ zu nennen, als ob wir nicht einen Vater zu lieben hätten. Die Beiden waren immer einig, sie vertheidigten Einer den Andern förmlich aufgeregt, und als die schlimmen Tage mit dem Hans begannen, als ein Beweis seines ungeregelten Lebens nach dem andern eintraf, als es die heftigsten Scenen mit dem Vater gab und es endlich über ihn zusammenbrach, da war Lotte Diejenige, die mit Thränen und Verzweiflung nicht daran glauben wollte und ohnmächtig ward, als Hans den Dienst quittiren und das Vaterland verlassen mußte. Selbst der Tod des Vaters hatte sie aus dem starren Schmerz nicht aufrütteln können, sie sprach nur davon, daß Hans nun ganz verlassen sei; und während Großmutter und ich in bitteren vorwurfsvollen Thränen seiner gedachten, beklagte sie ihn, als trage er ein schweres unverschuldetes Geschick.

Der Sommerabend war schon weit vorgeschritten, die letzten Strahlen der Sonne fielen dunkelglühend über die breite Promenade und ließen die zahllosen Spazierganger, Wagen und Reiter wie in einer transparenten Staubwolke erscheinen. Das Laub der Bäume zu beiden Seiten des Weges war aschgrau, und selbst in den zierlichen Gärten der Villen bekämpfte der Wasserstrahl vergebens die immer neu sich lagernden Schichten des Staubes auf Blättern und Blüthen.

Zum Ersticken sei es, bemerkte ich, aber Lotte schien diese Meinung nicht zu theilen. Ihre dunklen Augen sahen fast durstig hinein in dieses farbenbunte sonnendurchglühte Bild; hier und da erwiderte sie, stolz den Kopf neigend, den Gruß eines Bekannten, und einmal erröthete sie flüchtig, als ein junger Reiter, in der Uniform des Xten Garderegiments, die Hand zum Gruß erhob.

„Eberhard von Stoßen, Hansens bester Freund,“ sagte sie. „Armer Hans!“

„Der mit schuld ist an seinem Untergange,“ ergänzte ich bitter.

„Schuld?“ erwiderte sie, „schuld sind unsere Verhältnisse, unsere jammervollen Verhältnisse! Hätten wir Vermögen, so wäre Hans der ehrenwertheste Mensch."

Ich schwieg; es war immer dieselbe Antwort.

Endlich lag der frische grüne Kirchhof vor uns; wie tiefer Friede überkam es mich. Weit hinter uns war das Gedränge, der Lärm der Straßen geblieben, nur wenige Gestalten weilten an einzelnen Gräbern, und in der breiten Mittelallee, langsam auf und ab wandelnd, die beiden alten Damen, die, wie der Todtengräber uns einmal erzählte, jeden Tag ihre Promenade hier zu machen pflegten. Als ein wunderlicher Spaziergang war es mir sonst immer erschienen; jetzt, seit den letzten schweren Wochen, begriff ich es: hier war Friede, Ruhe und Hoffnung auf das Ende aller Erdenqualen.

Wir saßen stumm neben einander auf dem Bänkchen vor den drei Hügeln; dort meine Mutter, dann Lottchens Mutter, und dieses neue Grab das unseres Vaters. Weinen thaten wir Beide nicht, auf unseren Gemüthern lag es wie Trotz; wir dachten Beide an Hans. Jetzt ahnt er noch nicht, daß hier ein neuer Hügel – oder hatte die Trauerkunde ihn schon erreicht, nachdem er kaum den Fuß auf festen Boden gesetzt? Eine schwere furchtbare Botschaft für ihn! Ich konnte ihn mir vorstellen, wie erschüttert er war, wie er sich anklagte, schuld an des Vaters raschem Tode zu sein; ich wußte, er würde weinen, toben, sich die Haare raufen, und eine halbe Stunde nachher würde er, ein lustiges Liedchen pfeifend, nach irgend einem Amüsement ausschauen. Unbegreiflicher, liebenswürdiger, kindlich guter Hans!

Lotte war plotzlich aufgestanden und näher zu dem Grabe getreten, und auf einmal kniete sie nieder, warf die Arme über den Hügel des Vaters und begann stille aber heftig zu weinen; ihr schlanker Körper bebte und zuckte im verhaltenen leidenschaftlichen Schmerz. Wohl eine Viertelstunde lang verharrte sie so, und ich störte sie nicht; endlich erhob sie sich und trocknete ihre Thränen. „Es hilft doch nichts, man muß versuchen, was aus solchem erbärmlichen Dasein zu machen ist.“

„Wie meinst Du?“ fragte ich sie.

Sie sah unendlich gleichgültig in das Blättergewirr hinein. „Hans sagte immer,“ kam es von ihren Lippen, „wir Menschen seien wie die Puppen auf meinem Kindertheater, die unsere Hand am Draht hinschob, wie es uns beliebte; er war in seinem Glauben der reine Türke.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_010.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2020)