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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Ich sah sie noch immer fragend an.

„Aber ich,“ setzte sie rasch hinzu und wischte über ihre gerötheten Augen, „ich will mich nicht schieben lassen. ich will nicht! Ich mag nicht so weiterleben!“

Und sie wandte sich kurz und schritt zwischen den Hügeln hinunter, so rasch, daß ich kaum zu folgen vermochte.

Schweigend kehrten wir nach Hause zurück; Lotte, um sich sofort auf die Chaise longue zu werfen und „Schnips“, Hansens zurückgelassenen Pinscher, zu streicheln, zu küssen und zu necken und ihm dabei von seinem Herrn vorzuplaudern. Und das Thier horchte bei dem Worte „Herrchen“ hoch auf, sprang vom Sofa und lief zur Thür, als warte es auf den bekannten Tritt, und kam zu Lotte zurück und sah sie fragend an mit den klugen glänzenden Augen. Da nahm sie das Thierchen empor und drückte ihr Gesicht in das gelbe Fell „Nein, ich will nicht!“ hörte ich sie noch einmal sagen.

Die nächsten Wochen vergingen mit Vorbereitungen für den Umzug. In ihrem Zimmer studirte die alte Frau den Rotenberger Wohnungsplan, legte das Centimetermaß an diesen und jenen Gegenstand und bezeichnete diejenigen Meubel, die verkauft werden sollten, auf einem großen Bogen Papier. Es gab furchtbare Thränenscenen, wenn Lotte erfuhr, daß irgend ein Lieblingsstück in fremde Hände wandern müßte; das Speisezimmer mit den geschnitzten Eichenmeubeln wurde stückweise von ihr vertheidigt, allein vergebens; es wäre ja nicht möglich sich davon zu trennen, meinte sie.

„Am leichtesten doch davon,“ entschied die Großmutter; „was wir behalten, sind Andenken an Eure Mütter, den Firlefanz da schaffte der Wilhelm“ – so nannte sie den Verstorbenen – „erst an, als er Regimentskommandeur wurde und in seiner Stellung repräsentiren mußte. Ich nehme meine alten lieben Sachen, Ihr Euer Boudoir; wir haben dort nur drei Zimmer, also beruhige Dich, Lotte!“

Aber Lotte beruhigte sich nicht. An dem Tage, wo ein Händler die Meubel abholte, lag sie in Weinkrämpfen auf dem Sofa; sie schluchzte Tag und Nacht, sie wurde blaß und elend, und schließlich mußten wir zum Arzt schicken.

„Nerven!“ meinte der freundliche Mann. „Luftveränderung! Es paßt ja ganz vortrefflich, daß Sie Berlin verlassen; Landluft, aus der Großstadt hinaus, das wird’s thun!“

Aber die Angst wich doch nicht von mir. Als am letzten Abend unseres Berliner Aufenthaltes das Kind noch immer weinte, setzte ich mich zu ihr an das Bette und nahm ihre kleine heiße Hand in die meine.

„Lotte, Herzensliebling,“ bat ich, „habe doch einmal Vertrauen zu mir – nicht wahr, Du läßt Etwas hier zurück, das –“

„Ja, ja,“ schluchzte sie, „mein ganzes Glück –“

„Und Dein Herz, Prinzeßchen?“

„Ach Unsinn!“ antwortete sie in ganz verändertem Ton und hörte auf zu weinen.

„Ich dachte es, weil Du so unglücklich bist; mir kam der Freund vom Hans in den Sinn; weißt Du, der Eberhard von Stolten, Du hast soviel getanzt mit ihm. Ach, Lotte!“

Sie schwieg, aber sie lachte leise.

„Was sollte ich mit dem,“ sagte sie dann, „er hat ja beinah eben soviel Schulden wie Hans.“

„Ja freilich! Aber wenn Du ihn lieb hast, wäre das noch ein Grund mehr zum Weinen.“

„Ich einen armen Mann heirathen?“ fragte sie fast empört; „aber, Tone, Du bist närrisch! Es ist ja so schrecklich, arm zu sein, es ist ein Unglück! Und wenn er ein Halbgott wäre – niemals! Nein, das hieße ‚sich schieben lassen‘, und ich lasse mich nicht schieben!“

„O!“ sagte ich erstaunt und vorwurfsvoll, denn mir schwindelte einen Moment der Kopf. Sie hatte ja jede seiner augenfälligen Huldigungen mit ihrem reizendsten Lächeln in Empfang genommen.

„Was habe ich denn verbrochen?“ erkundigte sie sich.

„Du hast ihn nicht gerade entmuthigt.“

„Ja, als sein Onkel noch lebte," bemerkte sie trocken.

Ich wußte, was das hieß. Der Neffe hatte für den künftigen Erben des alten reichen Mannes gegolten; nun war dieser gestorben und hatte des Neffen nicht gedacht.

„So ist es doch völlig aussichtslos“ setzte Lotte hinzu und gähnte. Mir stockte das Herz vor solcher Vernunft.

„Ich glaubte, Du hättest ihn lieb und Deine Thränen wären um ihn geflossen?“

Sie sagte weiter nichts als: „Das ist ja alles Einbildung, ich bin nicht sentimental.“

„Dann kann ich mich also beruhigen?“ fragte ich kühl.

„Völlig!“ erwiderte sie kurz und legte den schönen Kopf auf die andere Seite.

Ich ging fast bestürzt hinaus und in das Zimmer unseres verstorbenen Vaters. Der Vollmond sandte sein bläuliches Licht in die Fenster, durch keinen Vorhang mehr gehindert, und zeigte mir die völlig leeren Wände. Es war mir unbeschreiblich traurig zu Muthe. Was war aus Charlotte geworden in den letzten Wochen? Hatte das Unglück so verfinsternde Schatten über ihr junges Gemüth geworfen, oder brachen die Zeichen eines häßlichen Charakters jetzt hervor, wo die Sonne nicht mehr strahlend über unserem Hause stand? Es giebt Menschen, die das Unglück weich und gut macht, es giebt auch Seelen, die sich verlieren im Leid.

(Fortsetzung folgt.)




Römische Cäsaren.

Von Johannes Scherr.
Caligula.[1]

Gaji turbata mens et furiosa inconstantia.     
(Des Gajus Irrsinn und rasende Unstätheit.) 
Tacitus und Seneca. 


1.

Im März des Jahres 37 der christlichen Zeitrechnung zog auf der Straße von Misenum nach Rom eine Procession einher, welche der fünfundzwanzigjährige Gajus Cäsar, genannt Caligula, führte und deren Mittelpunkt der Sarg des Tiberius bildete.

Der Zug glich weit mehr einer Triumphalpompa denn einem Bestattungsgeleite. Die geräuschvoll festlichen Sympathiebezeigungen, womit die Procession den ganzen Weg entlang empfangen und begleitet wurde, galten nicht dem todten Kaiser, sondern dem lebenden, seinem Nachfolger. Bei Gelegenheit von Regierungswechseln haben ja die Menschen von jeher es geliebt, ihren thörichten Hoffnungen überschwänglichen Ausdruck zu geben. Aus allen Ortschaften von rechts nach links strömte das Volk scharenweise herbei, um den Weg Caligula’s mit Blumen zu bestreuen. Ihm zu Ehren dampften an der Straße errichtete Altäre voll Weihrauchsopfern. Die Menge rief Heil und Segen auf sein Haupt herab und überschüttete ihn mit Schmeichelnamen wie „Augenstern“, „Püppchen“, „Bübchen“, „Pflegekindchen“.

  1. Verkleinerungswort von caliga, Soldatenstiefel. Caligula bedeutet also Soldatenstiefelchen. Der Sohn des Germanicus und der (älteren) Agrippina hat, wie jedermann weiß, diesen Spitz- oder vielmehr Kosenamen in seiner Kindheit im Feldlager von Germanien von den Soldaten zugelegt bekommen, weil seine Mutter den Knaben kleine Soldatenstiefel tragen ließ. Später war ihm aber die Benamsung Caligula sehr unliebsam. Die alten Quellenschriftsteller nennen ihn übrigens nicht Caligula, sondern Gajus Cäsar. Der Caligula, der Ueberschrift von Suetons Biographie ist ein späterer Zusatz. – Ich will gerade noch anmerken, daß die Quellen zur Geschichte dieses Kaisers leider nicht so reichlich fließen, wle zu wünschen wäre. Am empfindlichsten trifft uns, daß die Bücher 7–10 der „Annalen“ des Tacitus bekanntlich verloren gegangen. Davon waren zwei oder drei Bücher der Regierung des Gajus Cäsar gewidmet und wir dürfen kecklich annehmen, daß uns hier ein Bild desselben geboten war, wie es eben nur Tacitus zu malen vermochte. In Ermangelung dieses Führers sind wir auf Dion und Sueton angewiesen und zur Ergänzung derselben auf die gelegentlichen Mittheilungen, Bemerkungen und Winke, die sich in den taciteischen „Historien“, sowie bei den beiden jüdischen Autoren Philo und Josephus, endlich beim Seneca, dem älteren Plinius und anderen finden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_011.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)