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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

entfernteren Stadttheilen wohnen, übernehmen wollten – glauben Sie mir, verehrte Leserin, es gehört – wie hoch man auch von dem Werth des weiblichen Umganges und seinem bildenden Einfluß denken mag, viel Selbstverleugnung dazu, mit unbefangener Miene in kalter Winternacht seinen schützenden Arm einer Dame zu leihen, die vielleicht Berlin N oder O wohnt, während wir uns in Berlin W befinden. – Zum Glück ist der Westen der Brennpunkt des geselligen Lebens, und ich erwähne als Kuriosum die Thatsache, daß die Theilnehmer einer Herrengesellschaft, etwa 25 den Kunst- und Finanzkreisen angehörige Herren, vor Kurzem konstatirten, daß sie, so oft sie sich auch seit Jahren da und dort in den verschiedenen Berliner Salons begegnet waren, die westliche Zone nicht überschritten hatten.

Der bürgerliche Jourfix ist als schädlicher Auswuchs unserer großstädtischen Verhältnisse hingestellt und in letzter Zeit auf der Bühne bis zum Ueberdruß gegeißelt worden. Man hat wahre Karikaturen von „Gesellschaften“ inscenirt, und der gute Ruf der reichshauptstädtischen Geselligkeit mag durch diese Zerrbilder nicht gehoben worden sein. Dagegen ist es noch nicht unternommen worden, die unendlich komischen Bemühungen Derjenigen zu schildern, die entweder aus Eitelkeit, aus mißverstandenen Rücksichten des Standes, oder aus wahrer Freude an der Geselligkeit Soupers und Thees veranstalten, bei denen alles geborgt ist und – doch so viel fehlt. Es wird zu Hause gekocht, nur die Mayonnaise ist vom Koch, und auf dem Tische steht ein Bannerträger aus Cuivrepoli, der die gemüthliche Devise „Genöthigt wird nicht“ hochhält. Oft treiben die Leute die Eleganz so weit, noch einen Diener zu bestellen oder den Portier in die Livrée zu stecken.

Um elf Uhr setzt sich dann auch wohl ein vor dem Examen stehender Referendar an das Pianino und erschreckt das an schüchterne Etüden gewöhnte Instrument durch einen brausenden Galopp, und im Nu sind die leicht transportabeln Möbel aus dem Speisezimmer hinausgeschafft, und die Schläfer im ersten und im dritten Stockwerke fahren erschreckt aus ihren Träumen auf und seufzen: „Jetzt tanzen sie auch noch!“ Gegen ein Uhr verläßt der letzte Gast das Haus, – erst zwischen der Hausthür beim Schein der im Luftzuge flackernden Kerze bedachtsam nach einem nicht zu großen Silberstücke suchend, zu dessen Empfangnahme sich die Hand der fröstelnden Hausfee unter der Schürze bereits gekrümmt hat.

Die Freuden des Karnevals werden anticipirt. Der Karneval selbst tritt in Berlin ziemlich bescheiden auf, über seine Dauer urtheilt ein älterer Humorist:

„Die Bälle, Kränzchen, Picknicks, Kind,
Von Weihnachten bis Ostern sind“

und

„Was nicht ein Jeder haben kann,
Sieht man als Subskriptionsball an.“

Freund Schlittgen hat auf seinen Skizzen dieser fashionablen Karnevalsveranstaltung ebenso liebevoll gedacht, wie der Tanzvergnügungen, an welchen sich hauptsächlich die bevorzugten Träger von „zweierlei Tuch“ betheiligen. Eine gewisse Uebereinstimmuug ist indeß hier und dort bemerkbar. Die Scene im Foyer des eleganten Ballsaales ist etwas steifer, das ist wahr, während die Garde unten mehr Temperament entwickelt. Aber überall bleibt der Wehrstand Sieger und Hahn im Korbe. Um dem in galanten Angelegenheiten ein wenig hintangesetzten Civil einen Trost zu bieten, hat Schlittgen auch der Kehrseite des Militarismus, – im wörtlichsten Sinne – des Wind und Frost trotzbietenden Wachpostens, der freudlos seine Bahn wandelt, bis die Ablösung naht, gedacht.

Man hat von dem wuchernden Kneipenwesen, von der wachsenden und jedes Vergleiches spottenden Popularität des Münchener Bieres befürchtet, daß das Berliner Gesellschaftsleben dadurch empfindlichen Abbruch erleiden wird – aber seitdem das bayerische Bier salonfähig geworden ist, seitdem an der vornehmsten Tafel der altdeutsche kühle Bierkrug kreist, während die Weinflaschen zum großen Theil unberührt wieder in den Keller hinabwandern, ist die Befürchtung, unsere Herren könnten fahnenflüchtig werden, nichtig geworden.

Auch dem „Skat“ hat man die Salons geöffnet, nachdem man seine unbezwingliche Macht, die er über unsere männliche Generation gewonnen, erkannt hat, und selbst die Damen kommen mitunter in die Lage, sich des 3. Kapitels der Epistel St. Jacob! „vom Gebrauch und Mißbrauch der Zunge“ zu erinnern und – an die Stelle mittheilender Unterhaltung eine stille Bezique-Partie treten zu lassen. Daß in den Reihen des zarten Geschlechtes auch sehr tüchtige Skatgenossen stehen, ist selbstverständlich; es giebt Skatspielerinnen, die gefürchtet sind – ihrer Ueberlegenheit wegen.

Die Kreise der Kommerzienräthe und Börsenaristokraten, die ihre Soupers von Huster beziehen, pflegen auch für die geistige Bewirthung ihrer Gäste in exquisiter Weise zu sorgen. Sie laden Künstler und Künstlerinnen ein, die zu gelegener Zeit ein paar Lieder singen, ja selbst professionelle Gedankenleser, Bauchredner und Eskamoteure, die sich gerade in der Residenz aufhalten, werden zu einem solchen Abend engagirt. Man erzählt, einer unserer glücklichsten Börsenspekulanten, der Banquier B., habe vor einigen Jahren seinen Gästen nach dem „Pückler-Eis“ die Ueberraschung bereitet, den berühmten Klaviervirtuosen ** erscheinen zu lassen, von dem man wußte, daß er eben in Petersburg Koncerte veranstaltet. Der reiche Financier hatte den Virtuosen eigens kommen lassen, um die „Aufforderuug zum Tanz“ und eine andere Pièce zu spielen. Am nächsten Morgen reiste ** mit dem Schnellzug wieder nach Rußland zurück. Der Spaß soll 30 000 Mark gekostet haben. Da das Honorar in einem Kouvert verwahrt war, kann ich für die Richtigkeit dieser Ziffer nicht einstehen. Dieser verschwenderische Streich eines Mannes, der so reich ist, daß man von ihm sagt, er rauche nur die abgeschnittene Spitze der Cigarren und werfe die Cigarre selbst weg, erinnert an die allerdings unverbürgte Erzählung von der reizenden Ueberraschung, die der Wiener Rothschild bei einem Ballfest in seinem Palais den Geladenen bereitete. Der Krösus führte den Kotillon an, die Paare folgten ihm über die Treppe hinab, es ging nach dem Südbahnhofe, wo ein festlich dekorirter Separatzug bereit stand, der die Tänzerpaare nach Triest führte, von da ging’s nach Venedig, und erst nach drei vergnügten Tagen zog man wieder unter Musikklängen in den Rothschild’schen Ballsaal ein.

Bis die Geselligkeit Alles in ihren Strudel zieht, behaupten die Theater das Feld. Die Reichshauptstadt steht in dem Ruf, zwanzig und mehr Theater zu besitzen, aber die Rechnung ist falsch, es bleiben – wenn man von Theatern im eigentlichen Sinne spricht, doch nur acht, und diese besseren Kunstinstitute genügen am Ende auch dem Unterhaltungsbedürfnisse von 50000 Menschen, und höher ist das Berliner Theaterpublikum nicht zu veranschlagen. Dazu gesellen sich zwei elegante vom besten Publikum besuchte Specialitätentheater, der unverwüstliche Renz’sche Cirkus, die Vorstadt- und sogenannten Au-Theater, periodische Theaterunternehmungen und Tingel-Tangel schier ohne Zahl. Diese zuletzt genannten Vergnügungsanstalten haben die Erbschaft der zum großen Theil vom Schauplatz

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_018.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2020)