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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Binde entfernt ist, als wolle ich dieses Erinnerungsmal meines neulichen Unfalls zum Zeugen der Aufrichtigkeit meines Versprechens anrufen. Ja, ich glaube, ein übriges thun zu müssen, um dem guten Vater einen Beweis zu geben meiner Wohlgeneigtheit und des Wunsches, ihm gefällig zu sein, und erkläre, daß ich fest entschlossen sei, nicht mehr, wie früher, Kutscher werden zu wollen. Es sei der Gedanke dazu auch eigentlich mehr von Gustav Hopp ausgegangen, als von mir, und wenn Gustav gesehen hätte, wie Karl Brinkmann den Wagen, auf dem er ihn nach dem Johanniskirchhof gefahren, in Hemdärmeln gewaschen und dazu gepfiffen, würde er Karl Brinkmann auch nicht so lieb gehabt haben.

„Was möchtest Du denn nun werden?“ fragt der Vater.

ich sinne nach mit halbgeschlossenen Augen, vor denen die schöne Welt in ihrer Herrlichkeit auftaucht, an der ich eben erst da oben auf dem Wall meine morgenfrische Seele berauscht habe. Und es ist wohl aus diesem Rausche heraus, daß ich mit zitternden Lippen antworte:

„Ich möchte etwas Großes werden, etwas ganz Großes und Schönes, das blinkt und leuchtet, ich möchte König oder Kaiser werden!“

Der Vater, der den Hobel hat ruhen lassen, sieht mich so eigen mit seinen träumerischen Augen an. Ich breche deßhalb ab und füge schüchtern hinzu. „Das heißt, wenn Du es erlaubst.“

Ich denke, der Vater wird nun etwas sagen und mir die Erlaubniß geben, König oder Kaiser zu werden – erlaubt er mir doch sonst alles! Aber er antwortet nicht, sondern blickt mich nur immer so weiter nachdenklich an, während die Linke langsam durch den Bart streicht.

Ich kenne die liebe runzlige braune Hand mit den arbeitstumpfen Nägeln so genau, und daß sie vierfingerig sei, ist bis heute für mich so selbstverständlich gewesen, wie, daß der eine der beiden Thürme der Nikolaikirche keine Kuppel hat; aber ich sagte schon: es war dies ein besonders merkwürdiger Tag in meinem Leben, an dem die kleine Menschenpflanze auf einmal einen großen Schuß that, der dann wieder für lange Zeit reichen mochte und auch wohl gereicht hat.

So sind denn meine Königsträume plötzlich zerflattert bei dem Interesse, das mir des Vaters Hand einflößt, und ich frage so plötzlich, daß ich mich selbst darüber verwundere:

„Warum hast Du nur vier Finger an Deiner Hand?“

Der Vater legt den Hobel weg, setzt sich – ein Zeichen, daß er in der Arbeit eine Pause machen will – auf den dreibeinigen Schemel und drückt das abgetragene rothe Fez, welches stets neben ihm auf der Hobelbank lag, auf den kahlen Scheitel. Ein Lächeln spielt um die Augen und um die nachdenklich herabgezogenen Winkel des Mundes, indem er erst die obere und dann die untere Fläche der Hand betrachtet, als ob er selbst heute zum ersten Male den Schaden bemerkte.

„Sie haben ihn mir abgeschossen,“ sagt er.

„Wer?“

Der Vater bleibt die Antwort schuldig.

Ein fremder, langsamer und leiser Schritt kommt über den Hof, und in der offenen Thür steht der Major von Vogtriz. Er faßt an die Mütze und fragt: Tischler Lorenz?

Der Vater sagt: ja, indem er sich schnell von dem Schemel wieder erhebt, das Fez abnimmt und sich, im Aufstehen, den Hobelstaub von der blaugrünen Schürze streift.

Der Major tritt durch die Thür, wobei er sich ein wenig bücken muß, und nimmt, die Höflichkeit meines Vaters erwidernd, ebenfalls die Mütze ab. Er läßt einen flüchtigen Blick durch die Werkstatt schweifen, der auch wohl mich streift, sich alsbald aber auf den Vater heftet, mit dem er an zu sprechen fängt – ich höre nicht worüber und was – so ganz bin ich in den Anblick des Mannes versunken, als hätte meine heute gefeite Seele die Ahnung durchzuckt, daß einst an dieses Mannes Geschick mein eigenes sich knüpfen sollte. Doch das ist ein nachträglicher Gedanke. Was in jenen Minuten mein Auge an ihn fesselte, war schwerlich etwas Anderes als seine Erscheinung, die mir unsäglich imponirte, der ich nichts Vornehmeres und Schöneres gesehen zu haben glaubte, vielmehr gesehen hatte, und – darf ich jetzt hinzufügen – später im Leben gesehen habe. Eine so ritterlich hohe und zugleich so schlank anmuthige Gestalt, von der jede Bewegung das Auge wohlthuend berührte, wie das Ohr ein verschwebender Ton; so edel klare, vom reinsten Wohlwollen belebte Züge; so wundervolle dunkle mandelförmige Augen, die für gewöhnlich eine sanfte Schwermuth erfüllte, während sie in Momenten der Begeisterung von einem fast überirdischen Feuer erglänzten; dazu eine Stimme weich und mild, nur tiefer wie eine Frauenstimume, und die doch beim Kommandiren oder, wenn er erregt war, einen ehernen Klang hatte, vor welchem und vor dem Blitz, der dann aus seinen Augen zuckte, ich Gegner, die mit dem liebenswürdigsten der Menschen leicht fertig zu werden meinten, habe erbleichen sehen.

Das klingt wie die Schilderung eines Romanhelden – ich weiß es wohl; und ist doch nichts, als die lauterste Wahrhaftigkeit, die nach einem Ausdruck ringt, von dem sie fühlet, daß er hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Und wenn ihr Romanheld nennt, der für das Leben zu gut und zu edel ist, und dessen Gleichen man deßhalb im Leben schwerlich findet – nun, du Bester, Edelster, sie haben dir so oft gesagt, daß du in das Leben nicht taugtest! Und hast diese Untauglichkeit so schwer büßen müssen! Den Spott erdulden müssen, welchem der nicht entgeht, der den Schaden hat! Und erdulden müssen von solchen, die nicht werth sind, seine Schuhriemen zu lösen. So laß dir immer den Titel eines Romanhelden gefallen: er ist in meinen Augen dein höchster Ehrentitel.

Da sind meine Gedanken wieder bei dem Jetzt und sollten doch bei dem Damals sein. Ich weiß nicht, wie die Romanschreiber es machen, bei denen sich alles so glatt eines aus dem anderen entwickelt, und man auf der einen Seite nie weiß, was auf der nächsten stehen wird. Ich sehe jetzt, welch eine schwere Kunst das sein muß, und doch werde ich ein wenig in die schwere Kunst zu pfuschen lernen müssen, oder ich werde mein Vorhaben nicht ausführen: aus der Betrachtung meines Lebens zu entnehmen, wie sich aus dem Früher das Später, aus dem Damals das Jetzt entwickelt hat; wie ich werden mußte, was ich geworden bin.

So, du kleiner Kerl, da sitzest du wieder ein paar Schritte abseits und starrst mit großen Augen auf den Mann, der deiner staunenden Kinderseele ist, was dem Gläubigen eine himmlische Vision. Die Beiden haben ihre Unterredung beendet, die, wie ich mich dunkel erinnere, von dem Sarge gehandelt hat, der vorhin von Bruder Otto dem Major ins Haus gebracht ist, und an welchem dieser noch, ich weiß nicht was, verändert oder angebracht zu sehen wünscht. Indem er sich zum Gehen wendet, streift sein Auge mich zum zweiten Male. Er bleibt in halber Wendung stehen, während mein Blick, wie magnetisch angezogen, an dem seinen haftet, der auf mir mit einem unbeschreiblichen Ausdruck ruht. Und haften bleibt, als er jetzt an mich herantritt und mir die Hand auf den Kopf legt, während aus den schönen feuchten Augen, in die ich emporstarre, zwei große Thränen sich lösen und langsam die braunen Wangen hinabrollen in den glänzend schwarzen Bart, der, kurzgeschoren, Mund und Wangen des Mannes umrahmt.

„Wie alt bist Du?“ fragt er.

Ich sage es.

„Mein Ernst war nur ein Jahr älter,“ murmelt er.

„Er hatte so große blaue Augen und so schön dunkle Locken,“ sage ich.

„Du hast ihn gekannt?“ fragt er, indem er mich mit beiden Händen an den Schutern ergreift und vor sich hinstellt. Und jetzt rollen die Thränen unaufhaltsam über seine Wangen.

„Ja,“ sage ich; „er war aber in Oberquinta, ich bin erst in Unterquinta.“

Der Major mag sich gewundert haben, wie das Tischlerkind auf das Gymnasium kommt, und hat dann wohl meinem Vater einen fragenden Blick über die Schulter zugeworfen, denn mein Vater antwortet. „Es ist mein Stiefsohn.“ Er hat es nur gemurmelt und ich bin überzeugt, ich habe es nicht hören sollen. Aber ich habe es gehört, das Wort – wohl zum ersten Male in meinem Leben und ohne seine Bedentung zu kennen, oder darüber nachzudenken für den Augenblick, der ganz dem schönen Wundermann gehört. Der spricht jetzt wieder mit dem Vater und läßt sich, glaube ich, von diesem berichten, wie ich zu der Narbe auf der Stirn gekommen bin, und daß ich schon seit Wochen nicht in die Schule gehe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_022.jpg&oldid=- (Version vom 14.1.2024)