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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

menschliche Augen sichtbare Winke gegeben wurden, wie bei einer Schar fliegender Tauben man vergeblich nach dem Zeichen späht, auf das hin alle zugleich steigen, fallen, einschwenken, umschwenken. Dies wort- und winklose Sichverstehen und -verständigen schien mir um so merkwürdiger, als die Sinne bei allen mangelhaft ausgebildet waren; die Mutter hochgradig kurzsichtig wie mein Freund; die Tochter wie der Vater schwerhörig, wenigstens für menschliche Rede, während sie doch für Musik ein leises, feines Ohr hatte. Diese Mängel mochten durch die enge Berührung ausgeglichen werden, in welcher sie beständig lebten, jahraus, jahrein und Tag und Nacht sich auf die kleine Wohnstube nach der Gasse und ein paar enge halbdunkle Kämmerchen nach dem schmalen Hof beschränkend, aneinander drängend wie meine Kaninchen in ihrem Ställchen, an die sie mich auch sonst vielfach erinnerten. Besonders wenn sie, um den kleinen runden Tisch herumsitzend, ihr frugales Mahl knusperten, das, stets aus Brot, Salat, Früchten und dergleichen bestehend, wirklich ein kaninchenmäßig-vegetabilisches Ansehen hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals ein Stück Braten oder eine Flasche Wein auf ihrem Tisch bemerkt zu haben, wiederum im Gegensatz zu den Hopps, die fortwährend an ägyptischen Fleischtöpfen schmausten und dazu tranken wie homerische Phäaken.

So hätte denn, alles in allem, das düstere Haus mit dem muffigen Duft (welcher besonders in der Wohnstube stark ausgeprägt war) und seinen lichtscheuen knuspernden Bewohnern keinerlei Anziehungskraft für einen lebhaften phantastischen Knaben gehabt, wäre nicht meine Freundschaft für Emil gewesen, die eben jetzt in voller Blüthe stand, und hätte das Haus nur ein Unten und kein Oben gehabt. Aber es hatte ein Oben, und welch prachtvolles: die vier übereinander liegenden Kornböden in dem thurmartig aufragenden und sich zuspitzenden Giebel. Auf dem untersten und breitesten war der Weizen aufgeschichtet, dann kam der zweite, bereits etwas schmalere, mit dem Roggen, der dritte mit der Gerste, der vierte, oberste schmalste, mit dem Hafer. Von oben aber bis auf den Flur mitten durch das Haus schnurrten die Seile der großen Winde, deren mächtiges Rad unter den Dachsparren befestigt war, und die unten mit schweren eisernen Haken die zusammengeschnürten Säcke faßten, um dieselben, je nach ihrem Inhalt, in den verschiedenen Böden abzusetzen auf das von oben dumpf herabschallende Stopp! das Signal für die beiden Männer unten, vom Ziehen abzulassen. Stand man aber oben und blickte durch die offenen Luken (sie wurden hernach wieder geschlossen) niederwärts, so war es, wie wenn man von dem Deck eines mächtigen Auswanderungsdampfers durch die verschiedenen Etagen in den untersten Raum blickt, nur daß die Höhe noch viel beträchtlicher war, und man schon vollständig schwindelfrei sein mußte, um sich über die aufgestellten Klappen der Luke zu biegen und auf die beiden Aufwinder hinab zu sehen, die dann nicht größer zu sein schienen als ich selbst. Und während ich dann mit wollüstigem Schauer in die Tiefe starrte, stand Emil hinter mir, mich ängstlich an der Jacke zupfend, mit weinerlicher Stimme anflehend, zurückzustehen, entsetzt zurückprallend, wenn nun das emporschwebende Säckebündel in der Oeffnung auftauchte, und ich mit den Abnehmern oben lustig mein Stopp! in die Tiefe hinabschrie.

War das aber schon ein herrlicher Sport und das Wühlen mit den Worfelschaufeln in den breiten goldenen Getreidehaufen ein anderer — als der allerherrlichste erschien mir damals (und erscheint mir noch heute), da oben an einem schönen Sonntagssommermorgen in einem der Giebelfenster (es waren freilich keine Fenster, sondern nur mit hölzernen Läden verschließbare Oeffnungen) auf dem selbst noch hier oben mannesdicken Mauerrand zu sitzen und aus langen thönernen Pfeifen Seifenblasen in die blaue Luft zu schicken. Auch bei diesem Vergnügen starb der gute Emil fast vor Angst, ich könnte doch einmal, mich zu weit vorbiegend, von der Höhe auf das Hofpflaster hinabstürzen. Und dann: für sein kurzsichtiges Auge verschwanden die schillernden Ballons, auch wenn sie in windstiller Luft langsam davonschwebten, allzubald, und für ihn vergebens überhauchte der Sonnenschein die luftigen Kugeln mit allen Farben des Regenbogens. Aber für mich! Guter Gott, ich könnte weinen, denke ich der Seligkeit da oben in freier schwindelnder Höhe, die ganze schöne Welt unter mir: braune Häuserdächer, schattige Höfe, die grüne Erde und das blaue Meer, über mir der blaue Himmel, an dem weißschimmernde Wölkchen schweben, wie unten auf dem Meer weißschimmernde Segel, — ach, da zu sitzen, während die junge Brust, in unbewußter Wonne den sonnigen Aether athmend, von unaussprechlichen Empfindungen schwillt, und der reinen, morgenwindumfächelten Stirn Phantasien entschweben, luftig, bunt und zerflatternd wie die Seifenblasen, und in denen wir doch vielleicht schon alles Höchste und Größte vorträumen, was später jemals unsere Seele entflammen wird!

Und schon hatten die phantastischen Träume meiner jungen Seele angefangen, bestimmtere Formen anzunehmen. Das Bild des schönen hohen Majors, wie er da über die Schwelle in des Vaters Werkstatt trat (die mir in jenem Moment zum ersten Male klein und ärmlich erschien), war unverwischt in meiner Erinnerung geblieben, ja hatte nur noch stattlichere Dimensionen und leuchtendere Farben angenommen. Ich hatte ihn auch bereits zweimal wiedergesehen: aus der Nähe eines Morgens, als er an der Spitze des Bataillons zum Exerciren mit klingendem Spiel durch unsere Gasse kam; aus scheuer Entfernung das zweite Mal, als er bei der Parade auf dem Marktplatze unter den anderen Offizieren stand eines Sonntagvormittags, er der schönste und herrlichste von allen. Wie aber Phantasie und Gemüth eines Volkes von einer mächtigen Persönlichkeit, welche unter ihm aufsteht, so ergriffen und erfüllt werden kann, daß seinem mächtigen Willen nachzuleben höchste Ehre und Pflicht scheint, und Denken und Empfinden eines Jeden allmählich die Farbe seines Denkens und Empfindens annimmt, so war jetzt der Major für mich mein Ideal und mein Heros, nur daß ich mir schmeichelte, ihm dereinst nicht bloß ähnlich, sondern gleich zu werden, Major zu werden; an der Spitze einer Schar, die sich für meine Phantasie ins Endlose dehnte, zur Stadt hinaus zu reiten, während von dem Trommelschlag die Fenster klirrten, und die Leute vor den Thoren alle nach mir schauen, wie ich jetzt nach ihm.

Es war ein keckes Vorwegnehmen zukünftiger Herrlichkeit, wenn ich mich bereits jetzt von dem guten Emil „Herr Major“ bei unseren Spielen nennen ließ, und in dieser meiner Würde (welche mir die höchste auf Erden schien) von unserer Bodenluke aus die Welt, die mir zu Füßen lag, und über welche meine bunten Seifenblasen dahinschwebten, vertheilte. Freilich zu ungleichen Theilen. Indem ich Emil alles, was diesseit des Wassers lag, großmüthig überließ, nahm ich für mich die Insel drüben, die ich noch nie betreten hatte, und in welcher ich, wenn ihre mit grünen Streifen durchschlängelten Sandufer im Sonnenschein herüber schimmerten, das Land erblickte, wo alles, was sich meine Seele träumte, vollste herrlichste Wirklichkeit war.

Und wenn man sie nun kennen lernt, diese Wirklichkeit, und sieht, daß die reinsten schönsten Träume unserer Jugend an ihrer Rauhheit zerflattern wie Seifenblasen; der Widerstand der stumpfen Welt, von welchem der Dichter spricht, sich mit nichten besiegen läßt (oder doch wiederum nur in der Phantasie); in Wirklichkeit aber uns besiegt, in den Staub tritt, uns den Fuß auf den Nacken setzt und, nachdem er uns von der Welt die tiefste Schmach angethan, nun noch die allertiefste von uns heischt, der Sünden größte: das Abschwören unserer Ueberzeugung — ach! ist es für ihn, der so zurückschaut auf ein verfehltes und verfehmtes Leben — ist es lächerliche Feigheit, zu wünschen: wärst du doch an einem jener duftigen Sommermorgen aus deiner Sonnennähe und deinen Ikarusträumen hinabgestürzt und hättest dir den Kopf zerschellt unten auf den spitzigen Steinen des Hofes! Oder, es wäre dir beschieden gewesen, nie aus deinen Träumen zu erwachen zum Bewußtsein dessen, was ist, sondern, dem „Mallen Heinrich“ gleich, so weiter durch das Leben zu gehen, das für dich nicht existirt, die Seele voll von Musik, der schönen Musik, vor der die Teufel heulend in den Abgrund stürzen, während sich oben die Himmel öffnen, wo Gott Vater auf seinem strahlenden Sonnenthron sitzt, umschwebt von Engeln, deren Flügel in allen Regenbogenfarben schimmern — wie Seifenblasen!

Ich denke schaudernd der Unglückseligen, aus deren verstörter Seele heraus ich diese Worte geschrieben habe.

Und wer von uns — uns Jüngeren zumal — darf sich berühmen, daß er nie zu diesen Unglückseligen gehören wird?

(Fortsetzung folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_026.jpg&oldid=- (Version vom 14.1.2024)