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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ufer vom Meer umflutheter, von der Brandung umtobter Robinson-Eilande sah, als solche nehmen wollen. Ein armseliges, trauriges Gemach, das ich dennoch kaum jemals ohne ein Gefühl betrat, welches ich mir damals nicht recht klar machen konnte: jenes Gefühl zugleich ehrfürchtiger und neugieriger Scheu, mit welchem, glaube ich, gutgeartete Kinder immer das Zimmer des Vaters betreten, und in das sich bei mir nur noch eine Empfindung des Mitleids mischte, oder, wenn das zu viel ist: des Bedauerns, daß der gute Vater es nicht einmal, daß er es lange nicht so gut hatte wie ich. Denn war mein Kämmerchen unter dem Dache auch nicht minder klein, es hatte doch blaue Tapeten mit zahllosen kleinen Blumen, in denen man bei einigem guten Willen Rosen und Rosenknospen erkennen konnte, ein handgroßes Spiegelchen über der Kommode, auf der meine kleine Bibliothek in Reih und Glied stand, und vor dem Fenster einen Kornelkirschbaum, der unten längst ausgegangen war, aber auf den obersten Zweigen im Spätfrühling noch Blätter trieb und manchmal sogar Knospen, nur daß die Früchte nie reif und selbst von den Spatzen als zu bitter verschmäht wurden. Das Gemach hinter der Werkstatt nun gar mit dem Zimmer zu vergleichen, welches (nebst einer daran stoßenden Schlafstube) den oberen Stock des Hauses ausmachte und von der Mutter bewohnt wurde, kam mir niemals in den Sinn. Es verstand sich für mich von selbst, daß sie für ihr Theil so viel Raum hatte als die übrige Familie, selbst zur Zeit, da die Großmutter noch lebte und die Brüder im Hause waren, zusammengenommen; und wenn ich über ihre Schwelle nicht in ein klösterlich einfach ausgestattetes, niedriges Zimmer mit drei kleinen gardinenverhängten Fenstern, sondern in einen prachtvollen Königssaal oder meinetwegen auch in einen hohen, von magischem Dämmerlicht durchflutheten Kirchenraum getreten wäre –– es würden in meinen anbetenden Augen die rechten Räume für die Einzige, Unvergleichliche gewesen sein.

Es war an einem Sonnabend-Nachmittage im Winter. Ich saß bei dem Vater in der Werkstatt und erzählte ihm von der ersten Konfirmationsstunde, die ich heute Morgen bei Pastor Renner, dem neuen Prediger an der Johanniskirche, gehabt hatte. Ich war in großem Eifer, denn, was ich da gehört, hatte mein Innerstes gar mächtig aufgeregt. Der Pastor, schien es, hatte die jungen Seelen gleich scharf angreifen wollen und von der Nachfolge Christi gesprochen, in die wir jetzt alles Ernstes zu treten hätten, und den Bedingungen, unter denen diese Nachfolge, an welcher das Heil unserer Seele hänge, einzig möglich sei. Daß zu den ersten dieser Bedingungen das Aufgeben der irdischen Schätze gehöre, – dagegen hatte der Fünfzehnjährige nichts einzuwenden, dem die Erinnerung an seine weißen Kaninchen längst schattenhaft geworden war und der die Grabstätte der vermauserten Dohle, der letzten Bewohnerin des Vogelhauses, unter den Haseln auf dem Wall mit Sicherheit nicht mehr anzugeben vermochte. Aber der Pastor hatte auch von einem Besitz gesprochen, auf welchen jenes Wort von dem Rost und den Motten nicht gemünzt, der im Gegentheil an und für sich höchst wünschenswerth, ehrwürdig und heilig sei und dennoch anfange, zweifelhaft und bedenklich zu werden, sobald es sich um den Ruf handle, dem wir folgen müßten, und mit dem die Stimmen derer, die wir auf Erden am meisten liebten, nicht oder doch nicht immer im Einklang seien: die Stimme des Vaters, der Mutter, der Brüder, der Schwestern. Denn es stehe geschrieben: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht werth. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht werth.“

In meinem trefflichen Gedächtnisse hatte ich alles, wie es der beredte Geistliche in feuriger Rede vorgetragen, treulich behalten; den angeführten Spruch hatte ich auch schon vorher gekannt. Und während ich nun, ohne es zu wollen und zu wissen, des Geistlichen Ton und Sprechweise nachahmend, das Gehörte recitirte, klopfte mein Herz wieder vor Zweifel und Unwillen.

„Und das kann ich nicht glauben,“ rief ich; „und das ist auch nicht für uns; das ist bloß für die Katholiken.“

„Wieso für die?“ fragte der Vater, ruhig weiter arbeitend.

„Weil die einander überhaupt nicht lieben dürfen.“

„Das habe ich nie gehört,“ erwiderte der Vater kopfschüttelnd; „das kann auch nicht so sein.“

„Und doch ist es so,“ rief ich, „denn, wenn es nicht so wäre, wenn sie einander lieben dürften, wie ich Dich liebe und Du mich liebst, weßhalb –“

Ich hatte jäh abgebrochen; der Vater schaute ein wenig erstaunt auf.

„Nun?“ fragte er.

Sollte ich es ihm sagen, mein trauriges Geheimniß? Aber wie durfte ich es, wenn er es nicht einmal ahnte? seine blauen Kinderaugen mich so ruhig freundlich anblickten?

Aber plötzlich ging eine Veränderung in den Augen vor: ich sah es deutlich. Der freundliche Blick wurde trüber und ernst und irrte verlegen ab und wandte sich dann wieder auf mich mit einem Ausdruck halb des Schreckens und halb des Mitleids, während ich mit brennenden Wangen da saß und starren Augen, aus denen Thränen brechen wollten.

Die sonderbare Scene wurde durch einen Kunden unterbrochen, der in die Werkstatt kam, eine Rechnung zu fordern, nach welcher er schon mehrmals vergeblich geschickt habe. Der Vater bat um Entschuldigung: er habe gerade in den letzten Tagen so viel zu thun gehabt; die Rechnung solle sofort ausgeschrieben werden. Aber der Mann, der sehr laut sprach und heftig gestikulirte, hatte keine Zeit zu warten; habe auch noch zu Herrn Hopp zu gehen, von dem man ebenfalls keine Rechnung bekommen könne, wolle in einer Viertelstunde wieder kommen, Damit war er wieder davon gestürzt.

Ich hatte mich bereits auf einen Wink des Vaters in die Kammer begeben, die Rechnung zu schreiben. Ich besorgte dies Geschäft jetzt öfter für den Vater. Es war einfach genug: „Ein Sarg mit Zuthaten so und so viel“, je nach der Größe, bloß daß die Särge der Armen immer ein gut Theil billiger waren.

In der Kammer war es bereits dämmerig, indessen noch hell genug, um schreiben zu können. Aber in meiner Erregung verdarb ich ein paar Blätter und mußte nach reinem Papier in dem Kasten des Stehpultes suchen. Ich fand nicht sogleich welches, und als ich hastig und ungeschickt weiter kramte, kam mir, ich weiß nicht wie, ein kleiner Gegenstand in die Hände, deßgleichen ich noch nicht gesehen hatte, wenigstens sicher ncht so schön und kostbar: ein oblonges goldnes Kapsel-Medaillon mit einem verschlungenen Namenszuge auf der einen und einem in Email ausgeführten Wappen auf der anderen Seite. Habe ich die Feder absichtlich berührt, ist es von selbst aufgesprungen, ich wüßte es nicht mehr zu sagen. Ich weiß nur, daß mich ein jäher Schrecken durchzuckte, als ich in dem Bilde der Dame, welches es enthielt, meine Mutter erkannte. Nicht auf den ersten Blick, denn ich hatte sie nie anders als in einem schwarzen Kleide gesehen, das ihre zierliche schlanke Gestalt bis an den Hals umschloß, während ein schwarzer Spitzenschleier das braune gescheitelte Haar bedeckte und, unter dem Kinn leicht geschürzt, das köstliche Oval des blassen anmutigen Gesichts umrahmte, und hier sah ich sie mit freiem, eigenthümlich an den Schläfen bauschig toupirtem Haar, welches im Nacken zusammengenommen war, aber nicht so fest, daß nicht ein paar flatternde Locken sich rechts und links über die runden Schultern auf den Busen gestohlen hätten; um den Hals eine Perlenschnur, Perlengehänge in den zierlichen Ohren; das holde Antlitz, das ich niemals auch nur hatte lächeln sehen, ganz durchglänzt von Heiterkeit, die sich doch wieder in den strahlenden braunen Augen zu koncentriren schien; die rosigen Lippen des entzückenden Mundes leicht geöffnet und auch wieder gerundet wie zu einem zärtlichen Kuß.

Es mußte ein Maler ersten Ranges gewesen sein, der in dieses kleine Rund diese Welt von Anmuth und Schönheit zu bannen verstanden hatte; aber davon wußte meine junge Seele ja nichts, so wenig wie von der Welt, zu deren Vorrechten es gehört, in dem Glanz und Zauber solcher Anmuth und Schönheit zu schwelgen, sich zu berauschen, zu rasen, so lange bis – ach! ich wußte ja nichts, als daß meine Mutter so wonnig hatte lächeln können und diese strahlenden Augen mir nie geglänzt hatten, diese holden Lippen mich niemals hatten küssen wollen!

Und nun brachen die Thränen, deren ich mich vorhin nur noch eben enthalten, in Strömen aus meinen Augen; und, mir das Taschentuch gegen das Gesicht drückend, daß der Vater mein Schluchzen nicht hören möge, weinte ich, über das Pult gebeugt, das Medaillon in der herabhängenden krampfhaft geschlossenen Linken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_046.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2024)