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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Hahnenfuß und Immortelle, Schaum-, Sperr-, Finger- und Blutkropfkraut und andre mehr noch eine Heimath in der Wüste.

Es gedeihen auf solchen Stellen viel mehr Pflanzen, als man erwarten konnte, aber freilich wird man auch bescheiden in seinen Ansprüchen, wenn man tage- und wochenlang immer nur dieselbe Armuth um sich her wahrnimmt, immer nur Zwergbirken und Wollweiden, Rosmarinheide und Riedgras, Renthierflechte und Wassermoos um sich sieht, schon an verkümmerten halb im Moose versteckten, halb auf dem Boden dahinkriechenden Rausch- und Preiselbeeren sich erquickt und die Moltebeeren, welche die Moos-Polster anmuthig schmücken, als Blumen hinnehmen muß, wenn man tagelang über sie hinweg, zwischen ihnen dahin schreitet, immer auf Wechsel hoffend und immer sich täuschend. Jede bekannte Pflanze aus dem Süden erinnert an glücklichere Gegenden; an begrüßt sie wie einen lieben Freund, dessen Vorzüge man erst erkannte, nachdem man fürchten gelernt, ihn zu verlieren.

Das scheinbare Räthsel, weßhalb alle die genannten und andere Pflanzen einzig und allein dem dürren Sande der Dünen entsprießen, ist gelöst, wenn man weiß, daß nur der zu Dünen gehäufte Sand von der monatelang ununterbrochen vom Himmel herabstrahlenden Sonne so durchwärmt zu werden vermag, daß jene Pflanzen überhaupt gedeihen können. In der ganzen übrigen Tundra ist dies nicht der Fall. Moor und Sumpf, Morast und Bruch, selbst die mehrere Meter tief mit Wasser erfüllten Seen bilden nur eine dünne Sommerdecke des ewigen Winters, welcher in der Tundra seine ertödtende wie erhaltende Macht offenbart. Wo man auch in die Tiefe des Bodens zu dringen suchen mag, überall stößt man, meist kaum einen Meter unter der Oberfläche der Erde, auf Eis oder doch gefrorenen Boden, und gegen hundert Meter tief soll man graben müssen, bevor man die Eisrinde der Erde durchbrochen hat. Sie ist es, welche höheren Pflanzen freudiges Gedeihen verwehrt und nur solchen zu leben gestattet, welche an der dünnen im Sommer aufthauenden Bodenschicht sich genügen lassen. Erst wenn man gräbt, erkennt man die Tundra als das, was sie ist: als einen unermeßlichen und unwandelbaren Eiskeller, welcher seit Hunderttausenden von Jahren bestand und ebenso lange Zeit bestehen wird. Daß wenigstens das Erstere nicht bestritten werden kann, beweisen uns die Reste vorweltlicher Thiere, welche in ihm eingebettet und uns so erhalten wurden.

Eisfüchse.

Aus dem Eise der Tundra grub Adams im Jahre 1807 das riesige Mammuth, von dessen Fleische die Hunde der Jakuten sich gesättigt hatten, obgleich es vor vielen Jahrtausenden lebte, seit unbestimmbar langer Zeit schon aufgehört hatte, zu sein. Die eisige Tundra hatte den Leichnam des Vorweltselefanten aufgenommen und durch die Jahrhunderttausende getreulich bewahrt. Viele gleichartige und sicherlich auch andere Thiere der Vorzeit hat sie in ihrem Eise eingebettet. Auch sie ist einst im Stande gewesen, eine reichere Thierwelt zu ernähren, als sie solche gegenwärtig beherbergt. Wisent und Moschusochse durchzogen sie in allen ihren Theilen noch lange nach der Zeit des Mammuth; Riesenhirsch und Elenthier haben einst ihr angehört. Heut zu Tage ist ihre Thierwelt ebenso arm, ebenso eintönig wie ihre Pflanzenwelt, wie sie selbst. Doch gilt dies nur hinsichtlich der Arten, nicht aber der Einzelwesen. Denn auch sie ist, mindestens im Sommer, die Heimath zahlreicher Thiere.

Erst spät im Jahre bevölkert sich die Tundra in ersichtlicher Weise. Von denjenigen Thierarten, welche sie auch im Winter nicht verlassen, nimmt man um diese Zeit wenig wahr. Die aus dem Meere in ihre Flüsse aufsteigenden Fische deckt das Eis, die in ihr überwinternden Säugethiere und Vögel verbirgt der Schnee, unter welchem sie leben oder dessen Färbung sie tragen. Nicht früher, als er auf den südlichen Gehängen zu schmelzen beginnt, regt sich das thierische Leben. Zögernd nur halten die Sommergäste ihren Einzug. Dem wilden Ren folgt der Wolf, den treibenden Schollen auf den Strömen das Heer der Sommervögel. Einzelne von letzteren verweilen auch jetzt noch unentschieden in südlicher gelegenen Gegenden, gebaren sich, als ob sie brüten wollten, verschwinden plötzlich aus der Herberge am Wege, fliegen eilfertig der Tundra zu, erbauen unmittelbar nach ihrer Ankunft ihr Nest, legen ihre Eier und brüten eifrig, als wollten sie die Zeit einholen, welche ihre in südlicheren Geländen lebenden und brütenden Artgenossen ihnen voraus haben. In wenige Wochen drängt sich ihr Sommerleben zusammen. Treu innig vereint, gepaart für das ganze Leben oder doch den einen Sommer, kommen sie an; das Herz erregt durch die allmächtige Liebe, singend oder doch jubelnd schreiten sie zum Nestbau; unablässig geben sie sich ihren Elternpflichten hin, erbrüten, erziehen, unterrichten die Jungen, mausern und wandern wieder in die Fremde hinaus.

Die Anzahl der Arten, welche die Tundra als ihre Heimath ansehen müssen, ist gering, noch weit mehr aber die derjenigen,

welche wir als Charakterthiere des Gebietes bezeichnen dürfen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_051.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)