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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Ich danke,“ sagte ich, „ich will den Kaffeetisch indessen rüsten. Wollen Sie mit uns trinken?“

„Werde leider keine Zeit haben, Fräulein Tone,“ erwiderte er freundlich. „Ein andermal, morgen oder übermorgen. Auf Wiedersehen!“

Sie waren fort, und ich nahm den Schlüsselkorb und ging in das winzige Kämmerchen, das man uns zur Küche eingerichtet hatte. Es war eine recht häßliche Gemüthsstimmung, in der ich mich plötzlich befand. Seit Jahren war ich es gewohnt, die „Andere“ zu sein und heute zum ersten Male rebellirte etwas in mir dagegen; ich hätte, Gott weiß, etwas gegeben, wenn ich einer Andern das Schlüsselbund vor die Füße werfen und ihr sagen konnte: „Quäle Du Dich mit der Prosa des Lebens, bereite Du den Kaffee und das Abendbrot – ich habe keine Zeit, ich muß fort, ihnen nach!“ Aber der kleine Raum war todtenstill, nur die Küchenuhr tickte und mahnte an meinen Marthaberuf. Die Thränen, die sonst gar fest bei mir saßen, drängten sich in die Augen und fielen auf das bräunliche Fell des Hasen, der mitten auf dem weißgescheuerten Küchentisch lag. Gedankenlos strich ich über den Pelz. ich wußte es, den hatte Fritz Roden heimlich dorthin gelegt. Fast kein Tag verging, an dem ich nicht eine ähnliche Ueberraschung vorfand, Wild, Obst, köstliche frische Butter – und wie hatte es mich stets erfreut!

Heute erschien es mir wie Hohn; ich hätte den armen Lampe am liebsten aus dem Fenster geschleudert. „Empörend!“ schalt ich es, „aufdringliches Almosenspenden!“ – Wie ich unmuthig das arme Opfer meines Zornes empornahm, um es nothgedrungen vor das Fenster in die kühle Luft zu hängen, da trug es in seinem blutigen leblosen Mäulchen eine Rose, und diese Rose ließ mich plötzlich lachen wie ein glückliches, reich zu Weihnacht beschenktes Kind; so hell und froh, daß es befremdend von den Wänden zurückscholl. Vorsichtig nahm ich die blasse Blume aus den Zähnchen des Hasen und steckte sie auf mein schwarzes Trauerkleid, und als ich nach einer Weile wieder in das Zimmer trat, bemerkte Großmutter sie und sagte: „Ei, ei, Tone!“ und als ich roth wurde, neckte sie mich:

„An seiner Mutter hast Du auch schon eine Eroberung gemacht; ich darf es Dir ja sagen, Du wirst nicht eitel darum, Tone; mein Gott, es wäre solch großes Glück!“

„Ach Großmama!“ stammelte ich athemlos.

„Ich bin recht müde, Kind,“ sprach sie weiter und streckte mir die Hand entgegen. „Es kommt Alles nach; der Aufregung und des Kummers war es zu viel im letzten Jahre. Ach, Tone, es wäre ein sehr großes Glück!“ wiederholte sie.

Und sie winkte hinüber nach dem weit geöffneten Fenster des Schlosses; dort stand unser Prinzeßchen, warf Kußhände herüber und trieb allerhand Possen, und hinter ihr erschien Fritz Roden’s lächelndes Gesicht. „Sie ist sehr schön, die Lotte,“ sagte die alte Frau, „ich meine, sie wird es alle Tage noch mehr.“ Und als fürchtete sie, mich zu verletzen, wendete sie sich zu mir: „Schönheit hat Vieles voraus, Tone, aber –“ und sie streichelte sanft über mein Haar „aber darum ist sie noch nicht die Beneidenswerthere.“

Ich küßte ihre liebe Hand; ich gönnte ja dem Prinzeßchen ihren Liebreiz neidlos und aufrichtig.




Der Oktober ging vorüber, der November kam und neigte seinem Ende zu, und häßliche, finstere Nebeltage brachte er uns, Sturm und Regen. In der Großstadt wirkt solch Wetter nicht so unmittelbar; die Gasbeleuchtung der Straßen, die geschützten, von Häusern zugeschlossenen Wohnungen lassen Alles milder erscheinen; man kennt nicht den Sturm, der sich von den Bergen herabstürzt und das einsame Haus umtost; vor den Fenstern rauschen und ächzen nicht hohe Bäume, und das Käuzchen klagt nicht in finsteren Nächten vom Giebel des steilen Daches, wo es seinen Schlupfwinkel hat. Es giebt keine Schauergeschichten, keine Geister, die in solchen Nächten lebendig werden – es ist Alles so hell, so strahlend und so nüchtern, nicht der kleinste Märchenzauber will gedeihen.

Hier aber war noch Poesie in allen Winkeln. Der Wind sang seine wilden Lieder, und lange konnte ich wachend liegen, ihm zu lauschen und der alten Rotenberger Geschichten zu gedenken, die uns Frau Roden erzählte, wenn sie zur Dämmerzeit ihre gute Werthern besuchte. Mit Fritz Roden machten wir Spaziergänge in den nahen Wald; er zeigte uns die Stelle, wo einst eine Burg gestanden und jetzt nur noch Schlehengestrüpp wucherte auf grünem Grunde. Feierlich still war der Wald, den ich im Winterschlaf noch nicht kannte; nur das dürre Laub raschelte unter unseren Füßen, und zuweilen flog eine Krähe schreiend empor, sonst kein Laut. Und wenn wir in die Tannen kamen, welch herzerfrischender Duft! Die ganze Wonne der Kinderzeit umwehte mich und mahnte an glückliche Weihnachtsabende. Und wie Fritz sprechen konnte, so einfach, so wahr und schlicht; von den Spielen, die er mit den Brüdern und Kameraden im Walde getrieben, wo sie ihre Ritterburg gehabt und ihre Räuberhöhle, wie sie Eichkätzchen gejagt und Buchnüsse gesammelt; und von der Heimkehr Abends mit rothen Wangen und furchtbarem Hunger, und wie ihm doch nirgends in der Welt ein Apfel so gut geschmeckt habe, als die Reinetten aus Mutters Keller.

Wir waren viel zusammen, fast täglich. Jeden Sonntag, das war ausgemacht, speisten wir auf der Domaine; die Martinsgans mußten wir mit verzehren und zum Schlachtfest beim Frühstück helfen. Es war mir Alles so reizvoll, so anheimelnd, ich konnte mir nichts Schöneres denken. Wie der Wind trugen mich die Füße zu der alten lieben Frau, wenn sie fragen ließ, ob mich dies oder das interessire? und dann streichelte sie mir die Wangen. „Wie das blüht! Gelt ja, unsere Luft ist besser wie die Berliner.“

„Ach, tausendmal!“ sagte ich dann aus vollstem Herzen und lief hinter ihr drein, wie der Schnips hinter Lotte. Zuweilen spielten wir Abends vierhändig, Lotte und ich, und dann saßen Mutter und Sohn andächtig lauschend, und hinterher erzählte die alte Frau von den Liedern ihrer Jugend und wie sie so gar gern gesungen. „Von der Alp ertönt das Horn“, worüber Lotte ihre stumme Hoheit gelegentlich vergaß und herzhaft lachte.

Ja, es waren schöne Tage, trotzdem Frau Sorge uns von Berlin auch in das kleine bescheidene Daheim gefolgt war und ich oft bittend vor Großmutter stand mit leeren Händen.

„Tone, Tone, wir leben noch immer zu üppig!“ meinte sie, „Du mußt Alles noch einfacher einrichten.“

„Noch einfacher?“

Großmutter sah – Gott sei Dank – schlecht; sie konnte es nicht bemerken, wie Lotte das Näschen rümpfte über das „Leute-Essen“, wie sie es nannte. Zwar legte ich ihr heimlich die allerschönsten Stücke hin, aber ihre Laune wurde in demselben Grade schlechter, wie die meinige frischer und frischer. Für mich war es Frühling, hellster grüner Mai, wie er jedem Menschenkinde einmal beschieden ist, ein Festtag jeder Tag. Denn regelmäßig klang draußen der liebe wohlbekannte Schritt auf der Treppe, und wenn er eintrat, dann stand das Zimmer voller Sonnenschein.

„Es wäre ja ein großes, großes Glück,“ sagten beständig die Augen der alten bekümmerten Frau auf dem Lehnstuhl am Fenster.

Es war zu Anfang December; ich kam mit Frau Roden aus dem Städtchen zurück, sie hatte schon einige Einkäufe auf Weihnacht gemacht. Wir waren überall mit einem an Ehrfurcht grenzenden Respekt aufgenommen worden, und mir war so recht die Achtung vor einer angesehenen sorgenfreien Existenz in das Herz gekommen. So gesund, so herzerfrischend, so behaglich war das Wesen dieser Frau, die Niemand mehr gab, als ihm zukam, die so richtig mit den Leuten umzugehen verstand, immer das rechte Wort findend. Ich erinnerte mich beschämt der zwei letzten schweren Jahre, in denen der Vater so oft sagte bei diesen oder jenen Einkäufen: „Wenn es nöthig ist, Tone, so nimm es auf Rechnung; ich kann’s jetzt nicht.“ Und ich erinnerte, wie befangen ich in die Läden trat und die unerhörtesten Preise auf unsere Rechnung setzen ließ, die ich nimmermehr bezahlt hätte, wenn die Börse in meiner Tasche nicht so trostlos leer gewesen wäre.

„Nun wollen wir heim,“ sagte endlich Frau Roden, als wir aus einem Fleischerladen traten. „Wahrhaftig, Kindchen, es giebt Schnee – da sind die ersten Flocken!“ Und in der That, es taumelten große weiße Sterne durch die Luft und legten sich auf die schwarze Straußfeder, die Frau Räthin auf dem Hütchen trug. „Und, liebes Kind,“ setzte die alte Dame ein vorher begonnenes Gespräch fort, „da hat mir der Fritz gesagt, daß die Lottchen ganz leidlich malt; – könnte sie denn nicht ihr Talent verwerthen, Ihnen ein wenig zu Hilfe kommen?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_054.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2019)