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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Flecken derjenigen Kirschen betupft war, die gerade reif standen, und die sie sich mit Vorliebe selbst aus den Bäumen holte.

So blieb denn freilich niemand übrig, als Jettchen Israel, und sie war es, welche ich als Königin auf den leerstehenden Thron meines Herzens setzte. Nicht ohne einiges Zaudern. Denn in Wirklichkeit trug ich nicht das mindeste Verlangen danach, gerade von ihr geküßt zu werden, worauf es mir doch, als auf die Lösung des Problems, in erster Linie ankam. Aber eben weil der Preis des Sieges ein rein idealer war – die Tilgung eines Unrechts, das an mir geschah, und das ich immer mehr als eine Schmach zu empfinden begann – desto rühmlicher schien mir der Sieg, desto heroischer der Kampf. Es war die reine Don-Quixoterie. Der edle Don ist ja nicht blind, er sieht die Windmühlen, er sieht die Schafheerde, so gut wie Sancho; aber er will sie nicht sehen; sie sollen nicht sein, was sie sind; sie sollen das sein, wozu er sie macht und machen muß, oder er ist nicht der Ritter ohne Furcht und Tadel, der eine aus den Fugen gegangene Welt einzurichten hat, sondern mag ruhig nach Hause gehen und mit seinem Sancho Kohl pflanzen und Schweine hüten.

So sah ich denn auch Jettchen vollkommen, wie sie war: ein in seinem Wachsthum verkümmertes, linkisches, verschüchtertes Mädchen, das, wenn sie sprach (was sie selten that), stark lispelte und dazu mit ihren sanften scheuen braunen Augen überall hinblickte, nur nicht auf den, welcher mit ihr redete. Aber ich wollte sie so nicht sehen; in meines Geistes Aug’ war sie die Rose von Saron, eine schlanke Palme in der Wüste, ein Reh, das unter Lilien weidet; war sie vor allem Rebekka, die Tochter Isaak’s von York. Hieß doch ihr Vater wirklich Isaak und konnte ich mir doch einbilden, daß in den stets verschlossenen Räumen des oberen Stockes im Giebelhause all’ die märchenhaften Schätze aufgehäuft waren, welche das Auge des treuen Schweinehirten blendeten, als sich ihm die Geheimnisse des Judenhauses in York öffneten. Da zu der Rebekka selbstverständlich ein Ivanhoe gehörte, so war ich offenbar der nächste zu dieser rühmlichen Rolle, in die ich mich mit um so größerer Leidenschaft warf, als ich bald heraus fand, daß sie nicht minder schwierig als rühmlich sei. Denn woher in aller Welt die belagerte Burg nehmen, in deren Erkerzimmer die schöne Jüdin den kranken Helden pflegt (während der grimme Front de Boeuf ihren altem Vater auf einem Rost braten will)? woher das stolze Templerschloß, in dessen Hof ich um sie, die bereits auf dem Scheiterhaufen steht, auf Tod und Leben mit dem wilden Templer kämpfe? Es fehlte eben in traurigster Weise an allen und jeden Requisiten, aber wann hätte sich ein Knaben-Jünglingsherz durch den Mangel an dergleichen Kleinigkeiten irre machen und von seinem Ziele abschrecken lassen! Zuerst konnte ich noch immer indirekt dadurch mich als Jettchens Ritter erweisen, daß ich ihren Bruder vor seinen diversen Feinden in Schutz nahm, und das that ich denn auch auf die geringste Veranlassung hin in so übertriebener Weise, daß ich mit meiner Freundschaft für den „Judenjungen“ binnen kurzem zum Gespött der gesammten Sekunda geworden war. Sodann, wenn die Abenteuer dem Helden nicht in den Weg kommen wollen, muß er sie eben aufsuchen und bei dem Bestehen derselben daran festhalten, daß er mit jeder kühnen That, auch wenn die Beziehung auf seine Dame unerfindlich ist, doch stets seiner Dame dient und einen Schritt weiter thut auf dem steilen und rauhen Wege zu dem erhabenen Ziel.

So war es ein steiler Pfad, den ich auf Wendeltreppen und Leitern mit dem „Mallen Heinrich“ bis auf die oberste Galerie des Nikolaithurms hinaufklomm und weiter bis in die höchste Spitze unter dem Wetterhahn. Das Letztere aber that ich mit ganz augenscheinlicher Gefahr meines jungen Lebens, weil der „Malle Heinrich“ von der Galerie aus, trotzdem die Sonne glorreich leuchtete und eine große Flucht Tauben den Thurm umkreiste, so weit er auch die blöden Augen aufriß oder mit den zugekniffenen in die Sonne blinzelte, keine Spur von blauen, grünen und rothen, Ringel-ringel-rosenkranz tanzenden Engeln entdecken konnte. Ach, er entdeckte sie auch oben durch die schmale Luke unter dem Wetterhahn nicht und fing, während er da auf der Leiter hockte (die ich der sehr fraglichen Sicherheit wegen unten hielt), so bitterlich an zu weinen, daß mir vor Mitleid mit dem armen Menschen und vor Sorge um ihn (und auch wohl ein wenig um mich), trotzdem ein fürchterlicher Wind durch die Ritzen pfiff, der helle Angstschweiß von der Stirn tropfte und ich trotz meines Heldenthums Gott dankte, als wir endlich aus der wackelnden Thurmröhre heraus und die Leitern und Treppen hinab wieder unten auf dem grasdurchwachsenen Pflaster des Kirchhofs standen.

Und rauh war auch der Pfad, den ich mit Fritz Brinkmann (Kutscher Brinkmann’s Sohn) gegen Sturm und Wellen nach unserm Ankerplatz unter dem Wall an einem dunkeln Herbstabend zurückkreuzte. Fritz Brinkmann, mit dem ich das alte halbverrottete Boot in wochenlanger Arbeit kalfatert und segelfertig gemacht hatte, war der Meinung gewesen, wir sollten uns zu der Probefahrt einen stilleren Tag mit Nord-West wählen, da wir heute bei dem scharfen Südost leicht zu weit vom Lande ab- und in die See treiben konnten, auch wenn sich „die“ Boot regieren lasse, was er für sein Theil noch gar nicht beschwören wolle. Das war gewiß sehr verständig, und da Fritz bereits Halbmatrose war (sein Schiff lag im Hafen, um Israel’schen Weizen nach England einzunehmen), so mußte er die Sache auch kennen. Aber wo wäre das Abenteuer geblieben, wenn man die Gefahrlosigkeit des Unternehmens beschwören konnte! So that er mir denn den Willen (wie ich auch sonst das fragliche Glück hatte, die Menschen mir leicht willfährig zu machen), und wir segelten stolz aus unserer Bucht, um drei Stunden später, nachdem wir Mast und Segel verloren, heimzukehren, dem Tode nur um eines Haares Breite entronnen und von der fürchterlichen Arbeit des Ruderns so erschöpft und zerschlagen, daß, als wir „die“ Boot endlich wieder auf den Strand gezogen hatten und nun vom Strand aus den Wall hinauf mehr krochen als schritten, die verthierten Piraten, welche ich so oft an eben dieser Stelle bekämpft, Mitleid mit den armen Schiffbrüchigen gehabt haben würden.

Wenn ich nun so die Genossen zu meinen Abenteuern nahm, wie diese selbst, aus dem Stegreif, so bleiben jene Streifereien in meiner Erinnerung die herrlichsten, wo ich auszog, Niemand zur Begleitung als meine allzeit geschäftige Phantasie. Und ich dann, müde vom Umherstreifen, im dichten Forste dem Winde lauschte, der in feierlichen Cadenzen durch die hohen Fichtenwipfel strich, hingelagert am Rande des Grabens, in dessen braun-klarem Wasser die Käfer geschäftig ruderten, während das Abendroth immer tiefer zwischen den dunklen Riesenstämmen entglomm und am grünlichen Himmel über dem Walde die goldene Sichel des Mondes heller erglänzte, den Träumer zur Heimkehr mahnend, und nun dem Heimkehrenden, ehe er sich’s versah, die Nacht hereinbrach, die ihm vertraute Gegend in Dunkel und Geheimniß hüllend, aus der die Möglichkeit aller Gefahren von rechts und links hervorzulugen und zu wispern schien, und der melancholisch ahnungsvolle Ruf der wilden Schwäne, die unsichtbar hoch über ihm gen Süden zogen, in seinem jungen Herzen ein Bangen und Sehnen wachrief nach einem Glück jenseit der Erdenschranken, für das Menschenworte keinen Ausdruck haben.

Und für das er nun doch, war er in sein Kämmerchen zurückgekehrt, beim Schein des Lämpchens über Büchern und Papier nach einem Ausdruck suchte in holperigen Versen und unreinen Reimen, die, wenn sie keine Poesie waren (für die er sie hielt), im Gebiet der Prosa gewiß ebenso wenig eine Stelle fanden.

Bei diesem ritterlich-poetischen Mühen war nun das eigenthümlich, daß ich über den Mitteln anfing das Ziel aus dem Auge zu verlieren. Apoll schien mir zuzuwenden, was Amor, in dessen Dienst ich mich doch wußte, nicht gewähren mochte, bis der Gott seinen Heiligen doch auf einem seiner wunderbaren Wege dahin führte, wohin er selbst nun schon gar nicht mehr wollte.

Es war an einem Frühlingstage in der Dämmerstunde. Ich war drüben bei Israels. Der Vater Isaak arbeitete in seinem Komptoir, die Mutter schaffte in der Küche an dem bevorstehenden Abendessen, Emil war auf irgend eine Kommission in die Stadt geschickt, so war ich mit Jettchen allein in der Wohnstube, wo es niemals sehr hell war und jetzt schon zu dunkeln begann. Ich erinnere mich nicht, mit ihr jemals vorher allein gewesen zu sein; aber ich kann nicht sagen, daß mir deßhalb heute das Herz lebhafter klopfte. Im Gegentheil:

ich dachte gar nicht an sie, sondern saß in meine Träumereien

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