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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

verloren da, während sie an dem klappernden Klavier leise, wie um mich nicht zu stören, phantasierte. Sie hätte mich gern stören mögen: es waren keine goldenen Träume, die mich umgaukelten. Ich hatte die Mutter wieder einmal eine volle Woche nicht zu Gesicht bekommen, und seit einigen Tagen war auch der Vater, verstimmt über eine dringende Arbeit, die ihm mißrathen war, gegen seine Gewohnheit theilnahmlos oder zum mindesten wortkarg für mich gewesen. Ich fühlte mich allein und verlassen wie noch nie in unserm einsamen Hause und war eben deßhalb hinüber zu Israels geflüchtet. So, in mich hinein brütend, hatte ich Jettchens Gegenwart und ihres Spiels gar keine Acht mehr gehabt, als sie plötzlich zu singen begann. Ich hatte sie noch niemals singen hören, und das war es auch wohl, was mich aufhorchen machte. Sie sang mit ganz leiser, überaus zarter Stimme, daß es wie Schwalbengezwitscher war und nur durch die rhythmische Folge und herrliche Reinheit der Töne zu Menschengesang zu werden schien. Auch verstand ich erst, trotzdem ich ihr ganz nahe saß, den Text nicht, bis auch der dem betroffen Lauschenden zum Bewußtsein kam: ein Lied, das ich nie zuvor gehört hatte und seitdem nie wieder gehört habe, ohne voll Rührung jener Stunde zu gedenken, das schöne Volkslied von jenem Armen, der sich so allein und verlassen weiß „wie der Stein auf der Straßen“. Wie paßte das doch so sonderbar auf mich und in meine Stimmung! Ich saß da mit starren Augen und klopfendem Herzen und regte mich nicht, als sie jetzt endete und die zarten Hände von den Tasten auf den Schoß gleiten ließ. Ein paar Momente blieben wir so still neben einander, bis sie auf einmal die Hände vor das herabgeneigte Gesicht drückte und bitterlich zu weinen anfing.

„Warum weinest Du, Jettchen?“ fragte ich erstaunt.

„Weil auch Du so allein und verlassen bist,“ flüsterte sie.

Das Wort, das ich nicht erwartet hatte, traf mich ins Innerste.

„Jettchen“ stammelte ich.

„Du armer Junge!“ rief sie schluchzend.

Und plötzlich hatte sie mich, der ich in meiner Erregung vom Stuhl aufgesprungen war, mit beiden Armen umschlungen und mich geküßt.

Und war dann, einem verschüchterten Vögelchen gleich, aus dem Zimmer gehuscht.

Ich aber stand an allen Gliedern zitternd da und suchte mir klar zu machen, daß Jettchen mich geküßt hatte, daß mich ein weiblicher Mund zum ersten Mal geküßt hatte.


8.

So war denn das große Problem auf eine für mich völlig unerwartete Weise gelöst, und wirklich kam von jenem Abend an nach dieser Seite eine gewisse Beruhigung über mich. Die Ritterthaten im Dienst der unbekannten Herzenskönigin waren für die Zukauft unnöthig geworden; an Stelle der glänzenden Träume war die bescheidene Wirklichkeit getreten; die in so viel Gedichten angeschwärmte Geliebte hatte sich in eine Schwester verwandelt. Denn das war mir Jettchen geworden: eine Schwester und Freundin, von der ich wußte, daß sie in ihrer bescheidenen Weise an meinem Wohl und Wehe herzlichen Antheil nahm, und auf die ich deßhalb einen Theil des Vertrauens und der Liebe übertrug, welche ich bis dahin ausschließlich dem guten Vater entgegengebracht hatte. Daß ich in diesem Verkehr, wo ich im Grunde immer nur Rath heischte und das kluge Mädchen Rath ertheilte, viel mehr der Empfänger als der Geber war, bemerkte ich nicht. Ich sah für jetzt und später in dem allen eine Art von Herablassung meinerseits und wurde in diesem Hochmuth durch das schüchterne Kind bestärkt, welches jede Gutthat in Worten und Werken, die sie mir erzeigte, als eine Ehre darstellte, welche ich ihr erwies.

Wie dem aber auch sein mochte, ich hatte nun eine Schwester, die nicht meine Schwester war, wie ich einen Vater hatte, der nicht mein Vater war; und von denen ich doch nur Liebes und Gutes empfing, das einzige Gute und Liebe, das mein liebebedürftiges Herz als solches anerkennen wollte: ein kostbarer Besitz, an den ich mir nicht rühren lassen durfte, es sei auch, von wem es sei.

Und nun mußte jener feurige Prediger, zu welchem ich seit einem Jahre in die Konfirmationsstunde ging, gerade an dieses mein Heiligstes rühren und mit, ach! wie rauher Hand! Da ich ihm auch später auf meinem wirren Lebenswege begegnet bin, als er und ich andere geworden waren, ist es mir nicht leicht, mir sein Wesen von damals zu vergegenwärtigen – ich sehe ihn eben zu deutlich, wie er heute ist. Und ich meine, er war damals der bessere Mann, trotzdem mir durch ihn viel Leid angethan ist. Denn er that es mir jener Zeit an aus seiner Ueberzeugung heraus, zur Rettung meiner Seele, die er auf dem Wege, welchen ich trotzig gehen wollte, verloren sah.

Er war aber damals noch ein junger Mann, der Pastor Renner, wenn auch natürlich nicht in meinen so viel jüngeren Augen, mittelgroß, schlank mit einem von nächtlichen Studien bleichen Gesicht, das oft die tiefste Abspannung und Erschöpfung zeigte, bis es sich im Feuer der Rede wieder belebte und die trüben Augen unter den buschigen Brauen zu glänzen und zu glühen begannen. Wie er selbst von seinem nichts weniger als dumpfen Verstande jedes Opfer forderte, welches der Glaube erheischte, so schenkte er seinen jungen Zuhörern nichts – nicht die Forderung der Entsagung von jenem Wissen, das Stückwerk ist; nicht die Furcht vor dem Teufel, der umgeht wie ein brüllender Leu und suchet, wen er verschlinge. Nun schienen ja die übrigen Knaben, welche größtentheils aus der armen und rohen Bevölkerung der Hafengasse stammten, weiches Wachs in seinen starken Händen zu sein. Oder bestanden ihre Seelen auch nur aus jenem Stoff, von welchem der Dichter sagt, daß er „breit und nicht stark“ werde, man mag ihn treten, wie man will? Jedenfalls waren sie keine Fäuste, wenn sie sich auch weder vor Hölle noch Teufel fürchteten und von Skrupeln und Zweifeln irgend welcher Art völlig frei wußten. Sie saßen geruhig da, es mochten sich über ihnen die Himmel öffnen oder zu ihren Füßen der Abgrund gähnen; sagten ihre Artikel und Sprüche auf schlecht und recht und beantworteten die Fragen des eifrigen Lehrers je nach ihrer Fähigkeit, das Gehörte zu reproduciren, aber immer in seinem Sinne, das heißt, in dem Sinne, von welchem sie wußten oder muthmaßten, daß es der seine sei.

Mit mir hatte er einen schwereren Stand. Nicht als ob in meiner Seele nicht jenes Streben gewohnt hätte, sich dem Höheren, Unbekannten vertrauensvoll hinzugeben, und das wir mit dem Dichter „fromm sein“ nennen. Es wohnte mir sogar in einem vielleicht nicht gewöhnlichen Maße bei, und er erkannte es auch willig an. Aber ich hatte mich spät und nach langem bangen Bedenken zur Konfirmation entschließen können, stand mit meinen sechzehn Jahren im Begriff nach Prima versetzt zu werden, war ein guter Grieche und Lateiner, und der Herr Pastor meinte, meine religiöse Empfindung, das sei im besten Falle die Frömmigkeit der Heiden. Keinesfalls die echte christliche Frömmigkeit, der Glaube nicht, der Berge versetzen könne und das noch viel Schwerere vollbringe, uns bis an die Pforten des Himmels zu tragen, die sich freilich nur dem öffneten, der die Liebe habe. Und die doch eben wieder ohne den Glauben nicht die rechte Liebe sei, abermals nur die Liebe, wie sie etwa auch ein weiser Heide empfinden mochte: ein Sokrates, ein Platon; und die bei all ihrer relativen Würdigkeit an Werth unter der wahren christlichen so weit stehe, wie böhmisches Glas unter dem echten Diamanten. Ich vermochte nicht einzusehen, was doch der Glaube mit der Liebe zu schaffen habe; ich kannte solche, die jenen Glauben, von dem der Herr Pastor spreche, nicht hätten, und die doch die Liebe selber seien, und kannte wieder solche, die des Glaubens voll und dabei lieblos wären wie ein Stein.

Es war nicht das erste Mal, daß wir so an einander geriethen, natürlich nicht vor den anderen Konfirmanden, sondern nach der Stunde, oder zu einer besonderen, die er mir anberaumt hatte, um mir gewisse Fragen, die ich während des Unterrichts gestellt, gewisse Zweifel, die ich bescheidentlich geäußert, ausführlicher zu beantworten, gründlicher zu beseitigen, als es dort geschehen könne. So war es auch heute. Die Konfirmation sollte in Kurzem sein. Mein Geburts- und Taufschein waren nicht zu beschaffen gewesen. Der Pastor hatte darüber wegsehen zu wollen erklärt, aber es müsse zu einer Entscheidung kommen, ob meine Seele in ihrem dermaligen Zustande verharren dürfe, oder eine Wandlung in ihr vorgehen müsse, bevor ich zur Einsegnung würdig und reif sei.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_059.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)