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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

schwierigste aller Pflichten, die wir zu üben haben, wie sie denn auch die heiligste ist. Denn das Gebot der Nächstenliebe, welches uns als das heiligste gepriesen wird, ist entweder ein Nonsens, oder ein Mißverständniß und irrthümlicher Ausdruck, der, richtig gestellt, lautet: Du sollst gerecht sein gegen Deinen Nächsten, wie gegen Dich selbst. Mehr kann kein Mensch und kein Gott von uns verlangen, denn eben dies geht fast schon über die menschliche Kraft. Gerecht sein, Gerechtigkeit üben – wißt Ihr, was das heißt? Das heißt, weise sein, denn Ihr findet sonst nicht heraus, wo das Recht liegt; das heißt, stark sein, oder Ihr seid dem Gegner nicht gewachsen; das heißt, bedächtig sein, oder Ihr fallt in seine Schlingen; das heißt, rasch sein, oder man kommt Euch zuvor; das heißt, milde sein, denn Ihr wollt ja Niemandem schaden; das heißt, streng sein denn Ihr wollt ja dem Recht zum Siege verhelfen. Vor allem aber heißt es, tapfer sein, wie eine Löwin, der man die Jungen geraubt; oder alle jene Tugenden, wenn Ihr sie hättet, und Ihr müßt sie haben, soll die Gerechtigkeit der Leitstern Eures Lebens sein, sind nichts als tönend Erz und klingende Schellen.“

Ein heller Lichtschein aus dem Nebenzimmer, dessen Thür eben von Maria geöffnet war, glitt über das Gesicht der Sprecherin und ließ mir ihre Augen in einem seltsam feierlichen Glanz erscheinen. Ich war ungehalten über die Unterbrechung: ich hätte der wunderbaren Frau nur immer so fort zuhören mögen. War mir doch, was sie da eben gesagt, wie eine Offenbarung gewesen, die mir die schwersten Zweifel zu lösen versprach, an denen sich meine Seele seit jener Nacht meines Geburtstages abarbeitete. Ich hatte damals den Himmel angefleht, mich alle Menschen lieben zu lehren, wie es der gute Vater that: mein Flehen war unerhört geblieben. Es hatte einer falschen Gottheit gegolten: dem Trugbild der Liebe, das ich auf den Thron gesetzt hatte, welcher der Gerechtigkeit gebührte. Gerecht sein – das war es! und alles Andere nur tönend Erz und klingende Schelle. Und diese Frau sollte an einer fixen Idee leiden? Und ihre eigene Tochter, die mir doch so klug und gut erschienen war, hatte es gesagt? Wie sollte ich das verstehen?

Maria war gekommen, uns zum Abendbrot zu holen. Die beiden Frauen gingen voraus; Adalbert hielt mich, während wir ihnen folgten, ein wenig zurück und flüsterte mir zu:

„Kein Wort weiter von diesem Thema! Nur harmlose Sachen – ich bitte Dich!“

Das Speisezimmer war noch kleiner und wo möglich noch dürftiger ausgestattet als das Wohnzimmer, aber alles in ihm, wie dort, von jener peinlichen Ordnung und Sauberkeit, welche Adalbert’s Anzug stets auszeichneten, und die ich nun auch in denen der Damen wiederfand. Beide trugen bis an den Hals geschlossene einfache Kleider von einem dunklen Stoff ohne den geringsten Schmuck an Busen, Ohren oder Händen. Die Mahlzeit bestand aus Kartoffeln in der Schale, frischer Butter und einem gebratenen Fisch, der seines harten Fleisches und der entsprechenden Billigkeit wegen nur von den ärmeren Leuten gegessen wurde. Eine Magd schien nicht im Hause zu sein: wenn es etwas zu holen oder wegzuräumen gab, erhob sich Maria leise, daß man es kaum merkte, und kam ebenso wieder. Bei mir zu Hause, wenn ich, wie ja nun schon seit langen Jahren, mit dem Vater allein war, ging es nicht einfacher zu.

Getreu der Mahnung Adalbert’s, die mir übrigens recht unnöthig schien, gab ich mir Mühe, in den Ton einzustimmen, den er in der Unterhaltung anschlug und bei dem es auf eine harmlose Neckerei zwischen ihm und seiner Schwester hinauslief, nicht ohne daß für mich einige Spöttereien abfielen. Da ich die schwere Waffe des leichten Scherzes nicht annähernd so gut führte, wie die Geschwister, so zog ich in dieser Plänkelei sehr den Kürzeren, trotzdem Maria, wenn sie mich bedrängt sah, mir immer bereitwillig zu Hilfe kam, bis Adalbert, wiederum im Spott, fragte, was denn um alles in dem famosen Nathan-Aufsatze gestanden habe, von dem Professor Willy so viel Schönes gesagt, nur beileibe kein Wort von dem Inhalt? Auch seine Schwester sei unendlich neugierig.

„Ich bin es in der That,“ sagte Maria.

Ich blickte ihr schnell in das Gesicht: die Oberlippe zuckte im mindesten nicht; sie hatte es also ernsthaft gesagt.

„Wenn das der Fall ist, Fräulein Maria,“ sagte ich, „Ihnen will ich die Arbeit gern geben, unter der Bedingung, daß Sie sie nicht ihrem Bruder zeigen, der doch nur seinen Spott damit treiben würde.“

„Das würde mir erstens die Höflichkeit verbieten,“ erwiderte Adalbert, „und zweitens die Bescheidenheit, welche mir, der ich die schlechteste Nummer erhalten, dem gegenüber geziemt, der so Mustergültiges geleistet.“

„Du wirst es auch wieder einmal darauf angelegt haben,“ sagte Maria.

„Durchaus nicht,“ erwiderte Adalbert; „ich habe weiter nichts behauptet und zu beweisen gesucht, als daß Lessing mit seinem Nathan ein großes Unheil angerichtet hat.“

„Und ist das nicht schlimm genug?“ fragte Maria.

„Daß er es gethan hat? oder daß ich es behauptet habe? Warum sollte ich das Letztere nicht thun, wenn das Erstere der Fall ist?“

„Und das willst Du bewiesen haben?“

„Der Beweis war gar nicht so schwierig. Man brauchte nur die Unzahl der Juden herauszurechnen, die sich, seitdem Lessing die Unvorsichtigkeit hatte, den Nathan zu schreiben, für einen Nathan gehalten haben, ohne etwas Anderes zu sein, als ganz Stockjuden, um mich eines Nathan’schen Ausdruckes zu bedienen.“

„Das ist doch natürlich wiederum nur Scherz?“ rief ich.

„Mir nicht, lieber Freund. Mir ist es bitterer Ernst. Es ist kein Spaß, so auf Schritt und Tritt einem Pseudo-Nathan zu begegnen: einem, wie er glaubt, noch besonders Auserwählten seines ohnehin schon auserwählten Volkes, und hinter dem, was noch weniger spaßhaft ist, Hunderte nicht bloß von seinen, sondern auch von den Christenleuten herlaufen, die es auch glauben.“

„Aber ist denn das der Fall?“ sagte Maria.

„Wenn Du mich nur recht verstehen willst, ja. Die Gestalt des Nathan ist nichts weiter als der Träger der Lessing’schen Humanität, richtiger: des von jeder geoffenbarten Religion, ja eigentlich auch jeder Nationalität losgelösten Weltbürgerthums der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, das heißt: des direkten Gegensatzes gegen die dogmatische und nationale Beschränktheit des Judenthums. Und wenn Lessing, trotzdem er deßhalb mindestens eben so gut einen Christen, Mohammedaner, Hindu, Feueranbeter, Wilden à la Seume, oder der Himmel weiß, welchen weißen, schwarzen oder rothen Menschenbruder zum obersten Repräsentanten seines Weltbürgerthumes hätte nehmen können, einen Juden nahm, so war das eine ganz specielle Malice gegen die Götze und Kompagnie – ein Lessing’scher Extrawitz, so zu sagen, der nur, wie andere seiner Witze, das Unglück hatte, nicht von den Zeitgenossen und den Folgenden verstanden zu werden, weder von den Juden, noch von den Christen. Man verwechselte die Schale mit dem Kerne, bekümmerte sich gar nicht um diesen, sondern nahm jene und putzte und emancipirte munter drauf los, bis sie so blitzblank war, daß sich die schönste Humanität darin spiegeln konnte. Und in der blitzblanken Schale steckte und steckt bis auf den heutigen Tag der uralte, vertrocknete, wurmstichige Kern des bornirten, vaterlandslosen, nur auf Gewinn spekulirenden, durch und durch materialistischen ganz gemeinen Juden, um für das mildere Nathan’sche Wort den derberen Al-Hafi’schen Ausdruck zu gebrauchen.“

„Aber das heißt doch wahrlich das Kind mit dem Bade ausschütten,“ sagte Maria.

„Und das hast Du in Deinem Aufsatze geschrieben?“ rief ich.

„Buchstäblich so, lieber Freund, und es hat mich zwei Nächte gekostet, bis ich die Tirade fix und fertig hatte,“ erwiderte er.

„Du maßt mir erlauben, davon Gebrauch zu machen,“ sagte Frau von Werin.

Die Dame hatte so scheinbar gar keinen Antheil an dem letzten Theile unseres Gespräches genommen, daß ich sie ietzt einigermaßen verwundert anblickte, um auch sofort über ihr verändertes Aussehen zu erschrecken. Das feine vornehme Gesicht, das so huldvoll zu lächeln wußte, war wie in feierlichem Ernste versteinert, mit starren Augen, aus denen ein unheimlich stechender Glanz leuchtete. Den Geschwistern war die Wandlung ebenso wenig entgangen, nur daß sie offenbar die Erklärung des unheimlichen Räthsels hatten. In Maria’s Augen lag ein stummer Vorwurf gegen Adalbert, als wollte sie sagen: Du hättest es wissen müssen, und Adalbert schien zu überrascht, um trotz seiner geistreichen Sicherstelligkeit sofort den Uebergang zu einem andern Thema zu finden und so den drohenden Sturm zu beschwören.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_134.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2024)