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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

ganze Reihe zählten, und die sich naserümpfend von ihm zurückgezogen oder ihm offen den Umgang gekündigt hatten, als er es wagte, mit dem „Tischlerjungen“ einen Freundschaftsbund zu schließen.

Aber das waren Bedenken, die für mich hätten abgethan sein sollen, und die doch stärker als je auf mich eindrangen, als ich am letzten Abend vor der Reise in meinem Zimmer vor dem sorgsam gepackten Köfferchen stand, im Geiste schon abgeschieden von der trauten Umgebung, bei mir überlegend, ob ich der Mutter Lebewohl sagen oder mich mit der schriftlichen Notiz begnügen sollte, in welcher ich ihr meine Absicht mitgetheilt und die ich ihr durch die Magd (nicht mehr die lachlustige von früher, eine ältere, häßliche, mürrische Person) hatte zustellen lassen.

Ich hatte eben beschlossen, daß der schriftliche Abschied genüge, als ich ihre Thür gehen und den mir nur zu wohlbekannten leisen gemessenen Schritt des Kaplans über den Flur kommen hörte. Er mußte, um zur Treppe zu gelangen, an meinem Zimmer vorbei. Ich wußte aus leidiger Erfahrung, wieviel schritte es bis dahin, und wieviel er dann noch die Treppe hinab und zum Hause hinaus hatte. Ich hatte sie zu oft gezählt und bei dem letzten und dem Klappen der Hausthür jedesmal erleichtert aufgeathmet mit einer durch die Zähne gemurmelten Verwünschung, die ich dem Verhaßten nachsandte. Zu meinem Erstaunen blieb der Schritt heute vor meiner Thür stehen, an die alsbald – auch wieder leise und gemessen – geklopft wurde. Was konnte der Mann bei mir wollen? Unwillkürlich begann mir das Herz heftig zu schlagen, dennoch sagte ich mit leidlich fester Stimme Herein. Im nächsten Moment stand er vor mir und streckte mir die magere wohlgepflegte Hand entgegen, die ich nur eben an den Fingerspitzen berührte, um dann einen Stuhl herbeizurücken, ihn durch eine Geberde auffordernd, Platz zu nehmen.

„Wollen Sie sich nicht ebenfalls setzen?" sagte er.

Ich mußte zu diesem Zweck, da ich nur zwei Stühle hatte, das Köfferchen auf den Fußboden stellen. Sein Blick blieb auf dem Köfferchen haften, dessen Deckel ich schloß: der Mann sollte eben so wenig in meinen Koffer sehen, wie in meine Seele.

„Sie haben einen Ferienausflug vor,“ sagte er; „ich weiß es von Ihrer Frau Mutter. Sie ist sehr glücklich darüber. Je strenger sie selbst – viel strenger, als ich es billigen kann – der Welt entsagt hat, desto aufrichtiger freut sie sich, daß Sie in die Welt kommen, daß Sie Muth und Lust haben, dieselbe aufzusuchen. Und dazu sind die jungen Jahre gewiß die besten, ja, wohl die einzig geeigneten. Wer dann später resignirt, der weiß doch wenigstens, warum. Ich hoffe von Herzen, daß Sie nie zu dieser Resignation kommen, die eine traurige bleibt, auch wenn sie nothwendig sein sollte.“

War der Mann gekommen, mir das zu sagen? oder worauf wollte er hinaus? Ich saß, ohne mich zu regen, erwartungsvoll da, während mir jetzt zu meinem Aerger – das Herz noch immer unruhig schlug.

„Ich habe mich zunächst eines kleinen Auftrages zu entledigen,“ fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Sie wissen, daß ich nicht nur der geistliche, sondern auch der weltliche Beirath Ihrer Frau Mutter bin, und in dieser letzteren Eigenschaft habe ich Ihnen dieses kleine Päckchen zuzustellen, welches enthält, was der praktische Engländer richtig das ‚Needful‘ nennt, – diesmal für die Bedürfnisse und etwaigen Eventualitäten Ihres vorhabenden Ausfluges.“

Er wollte dabei ein Kouvert, das er aus der Tasche gezogen hatte, auf meinen Arbeitstisch legen; ich wies es lebhaft zurück.

„Es bedarf dessen durchaus nicht,“ sagte ich; „mein Taschengeld ist ein so reichliches, und ich wußte seit Monaten, daß ich diese Reise machen würde; ich bin völlig versehen.“

„Sehr vorsichtig, sehr klug für einen so jungen Mann,“ sagte er, ohne die mindeste Empfindlichkeit zu verrathen. „Aber wie Sie wollen. Ihre Frau Mutter hat keinen anderen Wunsch, als Ihnen die Freiheit des Empfindens und Handelns in jeder Weise zu sichern.“

„Ich bin meiner Mutter sehr verbunden,“ sagte ich.

„Sie haben wirklich alle Ursache dazu,“ erwiderte er, das Kouvert zwischen den Fingern bewegend; „Ihre liebe Mutter hat sich den Weg, von dem sie überzeugt ist, daß er zum Heile leitet, durch eigne Seelenkraft in Gebet und Andacht zu schwer erringen müssen, um nicht zu wissen, daß Gott nicht nur seine Heiligen, sondern auch uns sündige Menschenkinder wunderbar führt, und daß es wenig nutzt und oft recht üble Frucht bringt, so man sich vermißt, in seinen unerforschlichen Rathschluß mit kurzsichtigem Menschenwitz eingreifen zu wollen. Gesellt sich nun zu dieser höheren Einsicht, welche allemal die Demuth zur treuen Gefährtin hat, jene krankhaft nervöse Disposition, die Folge schwerster seelischer und physischer Leiden, so schaudert nun gar das zaghafte Herz, auch wenn es das Herz einer Mutter ist, vor der Verantwortung zurück, die wir mit der Leitung und Lenkung einer jungen Menschenseele auf uns laden. Ich hätte vielleicht früher schon Gelegenheit genommen, Ihnen dies zu sagen und damit wohl einen tieferen Einblick in das immerhin nicht leicht zu deutende Wesen Ihrer verehrungswürdigen Mutter zu eröffnen, – wie mich denn Ihre Mutter wiederholt dazu ermahnt und gedrängt hat, – aber ich habe gemeint, damit warten zu sollen, bis ich nicht mehr mit einem Knaben über so hochwichtige und schwierige Herzens- und Seelenangelegenheiten sprechen konnte, sondern mit einem Jüngling, der bereits selbst seine Herzenserfahrungen und seine Seelenkämpfe gehabt und erduldet hat, und bei dem man mit Sicherheit auf ein Verständniß rechnen darf, welches dem Knaben eben so sicher fehlt. Nicht wahr, ich habe mich darin nicht geirrt?“

Ich erwiderte nichts und was hätte ich auch erwidern sollen? Daß ich ihm nicht traute, so glatt die Rede auch von seinen Lippen floß? so schmeichelnd auch sein achtungsvoll höfliches Benehmen gegen den jungen Menschen war, den er in jeder Beziehung so weit übersah? Ich würde wohl endlich etwas sagen müssen, das fühlte ich wohl; aber nicht, bevor ich wußte, worauf dies alles hinaus sollte. Umschlich der Finkler den Vogel, um ihn zu umgarnen: nun, der Vogel war kein Gimpel und war auf seiner Hut.

„Ich darf mir gewiß Ihr Schweigen günstig auslegen,“ fuhr er fort, „und das giebt mir den Muth, der Sache, um die es sich handelt, näher zu treten. Ich bin überzeugt, daß Sie mich freundlich und ruhig anhören werden, wie Sie überzeugt sein dürfen, daß ich aus keinen anderen Motiven spreche, als aus denen der tiefsten Verehrung für Ihre Frau Mutter, der lebhaftesten Sympathie für Sie selbst und endlich aus der Nothwendigkeit der Situation heraus, die eine Entscheidung wünschenswerth macht, wie Ihre Frau Mutter meint, oder gebieterisch fordert, wie es meine Ansicht ist.“

Er hatte jetzt das Kouvert wieder eingesteckt und die weißen Hände über dem Stockknopf und dem niedrigen breitkrempigen Hut gefaltet. Seine dunklen Augen waren gesenkt; das aristokratische Gesicht hatte den Ausdruck tiefsten Ernstes angenommen, wie die Stimme, in der er jetzt weiter sprach, einen eigenthümlich eindringlichen Klang, trotzdem sie leiser war, als vorhin.

„Es giebt Irrungen des Herzens, die, wie beklagenswerth sie sind und wie schlimme Folgen sie auch für den Irrenden haben, ihm dennoch kaum angerechnet werden können. Als eine derartige Irrung muß ich die zweite Ehe Ihrer Mutter bezeichnen. Sie wurde von ihr eingegangen in einer Zeit tiefster seelischer und physischer Verstörung und Zerrüttung, welche die Annahme, daß Ihre Mutter mit dem vollen Bewußtsein der Wichtigkeit und Verantwortlichkeit des Schrittes gehandelt hat, fast ausschließen. Wie sie menschlich geirrt hat, so ist es menschlich recht und billig, ihr die Last, welche sie, ohne zu wissen, was sie that, jedenfalls in völliger Verkennung und Ueberschätzung ihrer Kraft auf sich geladen, möglichst zu erleichtern. Die Ehe zwischen einer gläubigen Katholikin, zu der Ihre Mutter geworden war, und einem Protestanten, der sich bereits damals von jedem Glauben losgesagt hatte, ist schon an und für sich im kanonischen Sinne keine; aber sie würde mir auch in dieser ihrer Entstellung heilig sein, wenn sie es in sich wäre oder je gewesen wäre. Nie hat zwischen den beiden Unglücklichen – denn auch der Mann kann nicht anders als tief unglücklich sein – ich will nicht sagen: eine Seelenharmonie, sondern nur ein leidliches Verständniß im gewöhnlichen menschlichen Sinne obgewaltet, wie das bei der völligen Verschiedenheit ihrer Naturen auch gar nicht anders sein konnte. Aber Ihre Mutter ist die bei weitem unglücklichere als die höhere, zarter besaitete Natur, die, um Fehle abzubüßen, welche großherzige Frauen am ehesten auf sich laden, um Versuchungen zu entgehen, denen Jugend und Schönheit am meisten ausgesetzt sind, von den Höhen eines gesellschaftlich reich bewegten, durch Kunst und Bildung verschönten Lebens zu den Niederungen socialer Dunkelheit und geistiger Armuth niederstieg, auf diesem Wege sich selbst verlierend

und, was ihr viel schmerzlicher ist, das Einzige, was ihr aus

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