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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

jenem früheren erhöhten Dasein übrig geblieben war und sie über die Misère des jetzigen hätte trösten können: ihr Kind.“

„Durch wessen Schuld?“ rief ich, ihm fest in die Augen sehend, die er bei seinen letzten Worten zu mir erhoben hatte. Auch senkte er den Blick nicht wieder, als er jetzt, leise und ohne eine Spur von Empfindlichkeit, fortfuhr:

„Sie irren sich völlig, wenn Sie glauben, daß ich Ihr Feind bin, der zwischen Ihnen und Ihrer Mutter steht. Das genaue Gegentheil ist der Fall. Ich weiß, daß ich Ihnen, dem jungen Freigeist und Freiheitsschwärmer, als Katholik und Priester verdächtig bin. Gerade wie hier Ihr Verdacht auf falscher Fährte ist, gerade wie die Armen und Elenden keinen treueren Freund haben als den katholischen Priester; wie sie nur durch uns, ich meine mit dem Beistand der heiligen Kirche, jemals ihre Fesseln werden brechen und zur Gotteskindschaft und zu einem menschenwürdigen Dasein zugleich gelangen können – und Sie also, der Sie dasselbe wollen wie ich, mein Freund sein müssen – ebenso stehe ich zu Ihnen in dieser Ihrer Herzenssache, und der Umstand allein, daß ich hier bin aus freien Stücken – denn wer hätte mich dazu zwingen können? – sollte Ihnen ein Beweis sein, daß ich die Wahrheit spreche.“

„Aber was verlangen Sie von mir?“ rief ich, der ich meine Erregung nicht mehr beherrschen konnte.

„Ich verlange nichts,“ erwiderte er; „ich komme als ein Bittender und bitte nichts weiter, als daß Sie mich geduldig anhören. Ich habe Ihnen jetzt die Situation, in der Sie beide, Ihre Mutter und Sie, jeder für sich und einander gegenüber sind, geschildert, und Sie werden mir Recht geben, wenn ich vorhin sagte, diese Situation dränge nach Entscheidung. Hier ist eine Mutter, die sich immerdar nach ihrem Sohn gesehnt hat und dieser Sehnsucht keinen Ausdruck geben konnte, da sie fürchten mußte, nicht verstanden zu werden; hier ist ein Sohn, der nun weiß, daß der Schatz der Liebe seiner Mutter ihm nicht, wie er wähnte, vorenthalten, sondern nur aufgespart ist, um ihm desto reichlichere Zinsen zu tragen – was in der Welt könnte die Beiden hindern, einander in die längst geöffneten Arme zu fliegen, in Zukunft einander so nahe zu stehen, wie sie sich bisher fern zu stehen schienen?“

Er schwieg, wohl, um mir Zeit zu lassen, mich zu sammeln. Ich bedurfte dessen wahrlich. Hatte ich denn recht gehört? Was ich als Knabe mit tausend heißen Thränen von Gott vergebens erfleht, das sollte mir nun plötzlich wie durch ein Wunder doch zu Theil werden? Ja, durch ein Wunder! Dies ging nicht mit rechten Dingen zu. Und dann –

Ich war aufgesprungen und an das offene Fenster getreten, um durch die dürren Zweige des Kornelkirschbaumes über den kleinen Hof nach dem Licht zu blicken, das düster aus der Werkstatt heraufdämmerte –

Und dann: wo blieb, wenn dieser Bund, den der Priester mir anbot, zwischen der Mutter und mir geschlossen wurde – wo blieb der Vater? was wurde aus ihm? Sollte er mit aufgenommen werden in den Bund? dann freilich durfte ich ja keinen Augenblick zögern zuzugreifen. Und es konnte ja nicht anders sein; sie mußten ja wissen, mit welcher Liebe ich an dem Vater hing!

Ich wandte mich wieder in das Zimmer. Herr von Ruver, der meine halb unwillkürliche Bewegung nach dem Fenster richtig gedeutet hatte, kam mir zuvor.

„Es wird freilich ohne alles Opfer für Sie nicht abgehen, aber wann wird je auf der Welt ein Großes ohne Opfer erreicht? Und sollte Ihnen die Wahl zwischen der Mutter, die Sie mit Schmerzen geboren hat, und dem Manne, der Ihnen – ich gebe es zu – immer ein treuer Hüter war, aber an den Sie doch weder Bande des Blutes, noch, ich bin dessen gewiß, ein tieferes geistiges Interesse fesselt – sollte Ihnen die Wahl schwer werden?“

„Was verstehen Sie unter dieser Wahl?“ fragte ich mit einer Ruhe, über die ich mich selbst wundern mußte, denn in meinem Herzen war es bei jedem der letzten Worte des Kaplans heiß und heißer aufgewallt.

„Viel und wenig,“ erwiderte er. „Wenig in so fern, als Ihnen in Ihrer Gesinnung gegen Ihren Adoptivvater keinerlei Wandlung zugemuthet wird; viel unter Umständen, wenn die Umstände eine Trennung wünschenswerth oder nothwendig machen sollten.“

„Eine Trennung?“ murmelte ich.

„Sie wissen,“ fuhr er fort, „für uns Katholiken ist die Ehe ein Sakrament in voller Konsequenz des heiligen Wortes, daß, was Gott zusammengefügt hat, der Mensch nicht scheiden soll. Von einer Scheidung kann also keine Rede sein, nur von einer Trennung, die ja überdies immer bestanden hat und möglicherweise nur eine räumliche Erweiterung erfahren würde – etwas völlig Irrelevantes also für die eigentlich Betheiligten, das für Sie selbst nur in so fern relevant wird, als Sie sich eventuell entschließen müßten, um mit Ihrer Mutter vereinigt zu bleiben, sich ebenfalls von Ihrem Stiefvater zu trennen.“

„Würde dieser Fall bald eintreten?“

„Wer könnte in die Zukunft blicken?“ erwiderte er nach einigem Zögern. „Ich kann nur so viel sagen, daß, wenn gewisse Eventualitäten eintreten, dieselben für Ihre Mutter und dann selbstverständlich auch für Sie eine namhafte, vielleicht glänzende Veränderung der Glücksgüter und der Lebensstellung zur Folge haben würden. Auch Ihr Stiefvater würde dabei nicht leer ausgehen; man würde sich angelegen sein lassen, ihm einen sorgenfreien Lebensabend zu sichern. Aber bevor ich mich Ihnen weiter öffne über Angelegenheiten, die für jeden Anderen Geheimniß bleiben müssen, außer für den Sohn, der mit seiner Mutter einig und eines ist – Ihre Mutter erwartet Sie. Wollen Sie mir zu Ihr folgen?“

Er hatte sich erhoben, jetzt ein Lächeln – ein Lächeln des Sieges, den er über den Jüngling errungen zu haben glaubte – auf den schmalen Lippen. Ich weiß nicht, ob ich auch so noch länger hätte an mich halten können – dies Lächeln brachte mich außer mir. Wie flüchtig es auch gewesen war, es erschien mir wie ein giftiger Hohn über mich und über den Vater, dessen Hammerpochen von unten heraufklang, dumpf und traurig, als schlüge er die Nägel in den eigenen Sarg.

„Nein,“ rief ich, „ich will Ihnen nicht folgen. Zu meiner Mutter, sagten Sie? Hat sie mich gepflegt, wenn ich krank, hat sie mich getröstet, wenn ich trostlos war – trostlos darüber, daß ich keine Mutter hatte wie andere Kinder? Wer hat alles Das an mir gethan, was meine Mutter hätte thun sollen? und dabei nie ein böses Wort gehabt gegen sie, die ihn und mich von sich gestoßen und getrieben, als wären wir unreine Thiere? Und ihn soll ich jetzt verlassen zum Dank für alle seine Liebe? Nun und nimmermehr! Behalten Sie Ihre Geheimnisse und die Glücksgüter, mit denen Sie mich fangen wollen, oder theilen Sie sie mit meiner Mutter! Mir soll es gleich sein; ich will nichts davon. Hören Sie: nichts! nichts!“

„Ich höre,“ erwiderte er – und dabei zuckte abermals ein Lächeln um seinen Mund – diesmal ein Lächeln des Spottes, vielleicht der Verachtung – „Sie sprechen ja laut genug – lauter, als es sich vielleicht dem Jüngling ziemt einem Manne gegenüber, der sein Vater sein könnte. Auch höre ich nichts, als was zu hören ich leider erwarten mußte und erwartet habe. Dennoch sei es fern von mir, Ihnen zu zürnen, wie ich wohl dürfte; ich verzeihe Ihrer Jugend die Hitze, zu der Sie sich montirt, Ihrer Unerfahrenheit die Wahl, die Sie getroffen haben. Auch soll sie deßhalb nicht unwiderruflich sein, diese Wahl. Ich lasse Ihnen Zeit, zur Ruhe, zur Besinnung zu kommen. Ebenso werde ich Ihrer Mutter den vorläufigen Ausgang dieser Unterredung in einer Weise mittheilen, die für sie die wenigst kränkende ist und Ihnen den Weg zur Umkehr offen läßt. Leben Sie inzwischen wohl, und Gott behüte Sie!“

Er nickte mit dem Kopfe, winkte mit der weißen Hand das Zeichen des Kreuzes und hatte das Zimmer verlassen. Ich hörte ihn nach dem der Mutter gehen und brach in ein höhnisches Gelächter aus: da stecken sie nun wieder die Köpfe zusammen über den bösen Buben! –

Glücklicher Weise für mich dauerte die Unterredung nicht lange. Der leise gemessene Schritt kam wieder über den Flur, an meiner Thür vorbei, knarrte die Treppe hinab und entfernte sich aus dem Hause. Ich athmete auf wie Jemand, der aus einem häßlichen Traume erwacht. Oder war wirklich Alles nur ein Traum gewesen? Aber da – wie ein Zeichen, das der Böse zurückgelassen – lag auf der Diele ein schwarzer glänzender Handschuh des Mannes. Ich stieß ihn mit dem Fuß auf die Seite, als ich nun selbst das Zimmer verließ, um zu dem Vater zu eilen, den ich hatte verrathen sollen.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_151.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2024)