Seite:Die Gartenlaube (1886) 155.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

der eine bin und Schlagododro der andere ist; ein glatter Sommerweg, auf dem das Wägelchen zwischen unabsehbaren Kornbreiten so rasch dahinrollt, daß wir die brütende Hitze kaum verspüren würden, auch wenn wir vor allem eifrigen Reden Zeit darauf zu achten hätten – das war die Situation, in welcher uns der Spätnachmittag des folgenden Tages fand. Eine Situation, die Schlagododro durchaus vertraut war, eine völlig neue für mich. Er wollte es noch immer nicht glauben, was ich ihm schon wiederholt versichert, daß ich seine Heimathinsel noch nie zuvor mit einem Fuße betreten habe.

„Sie hat Dir doch, so lange Du lebst, vor der Nase gelegen,“ rief er.

„Vielleicht gerade deßhalb,“ erwiderte ich. „Als ich ein kleiner Junge war und ich sie immer vor Augen hatte, und mein heißester Wunsch, einmal hinüber zu kommen, fand ich Niemand, der sich meiner erbarmt und mir mein Verlangen gestillt hätte, das ich vielleicht auch nicht einmal ausgesprochen habe. Später, als ich auf eigenen Füßen stand und ich jeden Tag hätte hinüber segeln und rudern, oder schlittschuhlaufen, allenfalls schwimmen können, wollte ich es nicht mehr. Die Insel war nur ein Traum geworden, den ich mir nicht zerstören wollte, mein Separat-Königreich, in welchem ich mir tausend Schlösser baute – eines schöner und stolzer als das andere. Siehst Du nun ein einziges von meinen tausend Schlössern?“

„Nein, wahrhaftig nicht!“ rief Schlagododro, die großen blauen Augen rollend.

„Ich auch nicht! Und das ist es ja eben. Ich wußte, daß sie sich in blaue Luft auflösen würden, sobald ich herüberkam. Und daran bist Du schuld.“

„Meinetwegen!“ rief Schlagododro lachend. „Du konntest doch nicht ewig träumen, obgleich Du wirklich eine erstaunliche Anlage dazu hast. Tausend Schlösser! potztausend! Wir haben auf der ganzen Insel, so weit ich sie kenne – und ich glaube, ich kenne sie so ziemlich von einem Ende bis zum andern – überhaupt nur fünf Schlösser, was man so nennen kann. Das sind, außer den zwei vom Fürsten, Grenwitz, Prohnitz und unser Nonnendorf, das freilich erst nachträglich aus einem Kloster zu einem Schloß umgebaut ist. Die andern sind eben Herrenhäuser, besten Falls und meistens. ganz gewöhnliche Pächterwohnungen, manchmal noch mit Strohdächern bis auf den heutigen Tag, wie zum Beispiel gleich da links Voigtehagen, auf dem ein Herr von Kalden wohnt, oder da rechts an dem Wald – Du siehst nur eben noch den Giebel und das Viehhaus – Bernewitz – es ist dreihundert Jahre im Besitz der Bernewitz gewesen – jetzt hat’s ein Herr – wie heißt der Kerl doch –“

„Krause,“ sagte der jugendliche Kutscher, ohne sich umzuwenden.

„Richtig: Krause! Und da noch weiter rechts –“

Schlagododro wußte wirklich in meinem Königreich Bescheid wie „in seiner Tasche“, und wenn ihm ja einmal der Name von einem Gut oder Gutsherrn nicht gleich kommen wollte, so half Jochen vom Bocke sofort ein, ich machte ihm über seine Allwissenheit ein ironisches Kompliment, das doch nicht ohne einen Beigeschmack von Neid war. Ja, wahrhaftig: ihm und seinesgleichen gehörte die Erde; wir Andern waren nichts als hauslose Wanderer, die der Besitzer achtlos oder mißtrauisch an sich vorüberziehen sieht oder, wenn er besonders gutmüthig oder gut aufgelegt ist, hereinkommen heißt, damit sie eine Stunde rasten.

Schlagododro gab dieser meiner Empfindung in seiner Weise Ausdruck, indem er lachend sagte: „Du bist und bleibst eben ein Phantast. Ich bin keiner, und das wäre auch schlimm für mich, der ich als Junge Oekonom werden wollte, und heute nachdem ich eingesehen habe, daß es mir dazu am Besten fehlt – woran es den Vogtriz, wie Du weißt, mit seltenen Ausnahmen immer gefehlt hat – wenigstens Nationalökonom werden will. – Jochen, waren die Herrschaften schon angekommen, als Du wegfuhrst?“

„Ja, jung’ Herr: der Herr Major und das gnädige Fräulein von dem Herrn Major und noch ein anderes Fräulein aus der Stadt und die Verzieherin von dem gnädigen Fräulein.“

„Von der habe ich ja noch gar nichts gehört,“ sagte ich; „wer ist denn die?“

„O,“ sagte Schlagodobro, „die ist famos. An der wirst Du Deine helle Freude haben. Sie heißt Fräulein Drechsler und macht ihrem Namen Ehre. Weiter sage ich aber nichts.“

Und nun – wären wir sonst junge Leute gewesen? – da die Rede einmal auf „die Damen“ gekommen war, blieben wir vorläufig bei diesem Lieblingsthema, das aber der großen rothen Ohren willen, die Jochen unter seiner Livréemütze wie zwei Flamingoflügel seitwärts starrten, in halblautem Tone und oft flüsternd geführt wurde. Ich erfuhr von Schlagododro zum andern Male, daß seine Kousine Ellinor das schönste Mädchen der Welt sei, und daß er sie „bis zum Wahnsinn“ liebe. Wenn ich ihm das nicht aufs Wort glauben wolle, so würde mir sicher der Beweis genügen, daß er wiederholt versucht habe, ein Gedicht an sie zu machen. Immer dasselbe. Dennoch sei er nicht über den ersten Vers hinausgekommen, und auch der stehe noch nicht fest. Er heiße entweder: „Geliebte Ellinor, von ganzem Herzen,“ oder: „Von ganzem Herz’, geliebte Ellinor“ – aber im ersten Falle fände er auf Herzen als Reim nur Schmerzen, und das sei doch zu verbraucht; im zweiten fände er gar keinen. Es sei zum Verzweifeln. Wie ich mich aus der Affaire ziehen würde?

„Ich würde beide Anfänge aufgeben und dafür einen dritten neuen nehmen,“ sagte ich.

„Ja, Du!“ rief Schlagododro wüthend; „Du hast gut reden, Du schüttelst dergleichen nur so aus den Aermeln. Ich möchte den Packen Gedichte sehen, den Du schon auf Fräulein Maria gemacht hast.“

„Noch nicht ein einziges, auf Ehre!“ versicherte ich.

Er sah mich mit verwundert rollenden Augen an. „Wie ist das möglich? Liebst Du sie denn nicht?“

„Wenigstens nicht ‚bis zum Wahnsinn‘,“ erwiderte ich ausweichend.

„Dann liebst Du sie nicht,“ docirte Schlagododro; „man liebt entweder bis zum Wahnsinn, oder man liebt gar nicht. Aber nun verstehe ich wieder nicht –“

Schlagododro brach jäh ab. Ich wußte, was er hatte sagen wollen: warum ich dann so viel bei Werins verkehre? Er hatte es mir gegenüber nie ausgesprochen und verschwieg es auch jetzt: er hielt es für unmöglich, daß ich ihn um Adalbert’s willen aufgegeben habe, eines Menschen willen, der ihm im tiefsten Grund der Seele zuwider war; von dem er gegen Andere erklärt hatte, daß er ihn überhaupt gar nicht für einen richtigen Menschen halte, sondern für einen aus Hochmuth, Herzlosigkeit und Fanatismus zusammengebrauten Homunculus, von dem er sich gar nicht wundern würde, wenn er sich eines schönen Tages in seine Bestandtheile auflöste und spurlos verschwände; Notabene nicht, bevor er in der Welt ein gründliches Unheil angerichtet.

So waren wir denn, bei diesem dunklen Punkt unserer Freundschaft angelangt, in Schweigen versunken, während wir weiter durch die immer lieblicher werdende Landschaft rollten, über welcher sich die Sonne bereits zum Untergange neigte. Vor uns und unter uns, die wir von einer sanften Anhöhe herabkamen, blinkte im röthlichen Licht eine tiefeinschneidende Bucht des Meeres auf, das wir während unserer ganzen Fahrt nicht wieder gesehen hatten. Links am Ufer ragten aus prächtigen Busch- und Baummassen Giebel und Dächer.

„Das ist Nonnendorf,“ sagte Schlagododro. „Gefällt es Dir?“

„Was ich bis jetzt davon sehe –“

„Ist nicht viel,“ unterbrach er mich lachend; „freilich; aber, ich denke, es wird Dir schon gefallen.“

Ich nickte; aber nicht mit innerlicher Zustimmung. Im Gegentheil: das Herz war mir seltsam beklommen, als ob da hinter die dunklen Baummassen das Geheimniß sich zurückgezogen habe, welches mir früher die ganze Insel war, und nun da verschleiert sitze. Und daß es klüger von mir gewesen wäre, hätte ich mich nie in die Lage verlocken lassen, an den Schleier rühren zu dürfen. Aber auch diese Reue kam zu spät. Schlagododro würde doch sehr verwundert die Augen gerollt haben, wenn ich da plötzlich aus dem Wagen gesprungen und in die Felder gelaufen wäre. Und nun waren es auch schon nicht mehr Felder, sondern glatte mit dunklem Buschwerk betupfte Wiesen, oder waren es Parkanlagen? und dann eine Allee mächtiger Linden, die in vollster Blüthe prangten, und da hielten wir vor dem Schloß.

(Fortsetzung folgt.)

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_155.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2024)