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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Nervöse Magenleiden.

Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.


Wer kennt nicht die Fabel von der Empörung der Gliedmaßen des Körpers gegen den Magen, diesen trägen Tyrannen, für den sie alle arbeiten und sich quälen müssen, während er in aller Ruhe gemächlich sich nährt und mästet? Und wie schön vertheidigt Shakespeare durch den Mund des edlen Römers Menenius Agrippa (in „Coriolan“) des Magens Recht und Macht:

Es ist gewiß, Ihr einverleibten Freunde,
Daß ich die Speisen all’ zuerst empfange,
Die Euch ernähren, und mit allem Recht,
Da ich das Vorrathshaus und das Gewölbe
Des ganzen Körpers bin. Bedenkt es wohl:
Durch Eures Blutes Strome send’ ich sie
Bis an des Herzens Hof, des Hirns Senat
Durch alle Ständ’ und Aemter
Im Gliederstaat des Menschen. Ich vertheile
Der kleinsten Ader, wie dem stärksten Nerv,
Was die Natur zu ihrem Leben heischt.

Es kann mit wenigen Worten nicht besser die hochwichtige Rolle des Magens für den gesammten Haushalt des Körpers gezeichnet werden, als dies der Freund Coriolan’s that. Ja wohl, es klingt Manchem vielleicht beschämend: der Magen ist für den Menschen ebenso wie für jeden thierischen Leib das nothwendigste Organ zur Erhaltung des Lebens. Den Verdauungsorganen und dem Magen in erster Reihe fällt die Aufgabe zu, die Stoffe, aus denen sich der Leib aufbaut und erhält, aus der pflanzlichen und thierischen Nahrung auszuziehen und sie frei von jeder unnützen Beigabe darzustellen. Ein gar merkwürdiges chemisches Laboratorium ist dazu im Magen eingerichtet, um aus dem verschlungenen Bissen jenen Speisebrei zu bereiten, welcher dem Blute die erhaltenden Stoffe zu bieten vermag. Kräftig arbeitet die Muskulatur des Magens durch abwechselnde Zusammenziehung der Längsfasern und Kreisfasern, um mittelst dieser wurmförmigen Bewegung jedes Theilchen der zerkleinerten Nahrungsstoffe mit der Magenschleimhaut in Berührung zu bringen. Die zahlreichen Drüsen dieser Schleimhaut sind dabei in voller Thätigkeit und mengen ihre Absonderungen, den Magensaft, dem Breie bei. In diesem klaren, farblosen Safte von saurem Geschmacke und eigenthümlichem Geruche sind besonders das Pepsin und die freie Salzsäure wirksame Bestandtheile, denen die bedeutungsvolle Eigenschaft zukommt, die Eiweißkörper und das Leim gebende Gewebe der Nahrung in eine lösliche Substanz zu verwandeln, die man Peptone nennt. Während der Magen seine Bearbeitung der Nahrungsbestandtheile vollzieht, bleiben die Oeffnungen desselben nach oben und unten verschlossen und nur pausenweise wird unter stärkeren Zusammenziehungen des Magens der Speisebrei in den Dünndarm entleert.

Es ist leicht begreiflich und seit alten Zeiten wohl erkannt, daß Veränderungen in der anatomischen Beschaffenheit des Magens, also Erkrankungen der Muskelhaut, wie der Schleimhaut und der in dieser eingebetteten Drüsen, die Verdauung beeinträchtigen und eine Fülle von Störungen hervorrufen, welche auf den ganzen Organismus den schädigendsten Einfluß üben. Schwäche der Muskelschicht hemmt die nöthigen Bewegungen des Magens, wie sich dies bei Magenerweiterung zeigt; eine zu große Menge von Magenschleim, wie sie sich bei Magenkatarrh findet, hüllt die Nahrungsstoffe in eine dicke Lage, durch welche es dem Magensafte schwerer wird, durchzudringen; ein an der Wand sitzendes Magengeschwür bringt weitgehende Zerstörungen zu Stande, und Neubildungen wie Magenkrebs verschließen den Ausgang des Magens und zersetzen den Mageninhalt. Dies Alles ist bereits seit Langem in der Medicin genügend gewürdigt; aber erst in der jüngsten Zeit ist es erwiesen worden, daß eine große Reihe von Verdauungsstörungen ihren Ursprung nicht in krankhaften Veränderungen in dem Gewebe des Magens und Darmes hat, sondern nur durch Störungen im Nervensystem verursacht ist. Es giebt also verschiedene nervöse Magenleiden, welche ähnliche krankhafte Erscheinungen mit sich bringen wie die Gewebsveränderungen des Magens.

Es sind zumeist Störungen im gesammten Nervenapparate, welche zu Ernährungsstörung der Magennerven, zu erhöhter Reizbarkeit der den Magen beherrschenden Nervenbahnen führen. Die nervösen Magenleiden sind eine Theilerscheinung der allgemeinen Nervenschwäche, welche durch mannigfache Veränderung der normalen Zusammensetzung des Blutes, z. B. bei Blutarmuth, Bleichsucht, fieberhaften Krankheiten, oder durch Ueberanstrengung des Nervensystems in Folge unzweckmäßiger Lebensweise herbeigeführt wird. Die nervösen Magenleiden sind darum vorwiegend eine Krankheit der vornehmlich mit geistiger Arbeit beschäftigten Stände. Der Landmann, welcher seine Zeit zumeist im Freien verbringt, und dessen Arbeit zwar die physischen Kräfte, nicht aber die Nerven sehr in Anspruch nimmt; der Tagelöhner, welcher im harten Erwerbe des täglichen Brotes wenig Muße zur Reflexion und keine Zeit zum Grübeln über seine Empfindungen hat, kennt wie vieles andere „Nervöse“ auch nicht die nervösen Magenleiden.

Diese kommen besonders bei Personen vor, bei denen die Anlage zu Nervenleiden überhaupt ererbt ist oder bei denen die Nervenschwäche durch ihren Beruf erworben wurde, bei jungen Leuten beiderlei Geschlechtes in den Entwickelungsjahren, bei zarten blutarmen Frauen, bei Männern, die sich unausgesetzt geistigen Anstrengungen unterziehen und eine vorwiegend sitzende Lebensweise führen. Es scheint, daß auch unmäßiges Tabakrauchen die Entwickelung nervöser Magenleiden begünstigt.

Die normalen Funktionen der Nerven des Magens zielen auf Bewegung dieses Organs, Absonderung der Drüsen und Empfindung hin. Nach diesen drei Richtungen hin wirkt auch die Nervenstörung schädigend. Die Forscher haben gefunden, daß Reizung der herumschweifenden Nerven (N. vagi), welche den Magen versorgen, mächtige Zusammenziehungen des unteren Magentheiles, des Pförtners, hervorrufen, Durchschneidung dieser Nerven dagegen Lähmung der Muskelbewegungen des Magens zur Folge hat. Es wurde weiter erwiesen, daß nach Durchtrennung der herumschweifenden Nerven am Halse die Magenabsonderung, namentlich die Pepsinbildung wesentlich beeinträchtigt wird und hierdurch Verlangsamung der Verdauung eintritt.

Was hier das Thierexperiment darthut, das kann täglich durch Beobachtung am Menschen erhärtet werden. Wer hat nicht schon an sich selbst oder an Anderen die Erfahrung gemacht, daß Schreck Magenschmerz verursacht, daß Kummer und Sorge den Appetit nehmen, daß Ekel die Verdauung stört, daß Furcht heftige Magen- und Darmbewegungen (Erbrechen und Durchfall) hervorruft. Wer „sein Brot mit Thränen ißt“, der verdaut es auch schlecht. Wie fördernd wirken hingegen angenehme Nervenerregungen auf die Verdauung! Das wußten die mit allen Genüssen des Lebens innig vertrauten, üppigen Römer ganz genau, indem sie bei der Tafel nicht bloß dem Gaumen, sondern auch allen anderen Sinnen schmeichelten und sich während des Essens an Gesang und Tanz ergötzten. Blumen und Musik, Wein und frohe Gesellschaft erhöhen nicht nur die Freuden des Mahles, sondern erleichtern auch die Verdauung der bunten Reihe von Tafelgerichten. Die freudige Erregung bei Tische wirkt gleich dem elektrischen Reize auf die Vagusnerven, welcher dem Magen mehr Blut zuführt, die Absonderung des Magensaftes vermehrt und die Magenbewegungen steigert.

Die nervösen Magenleiden, welche die Bewegungen des Magens beeinträchtigen, können entweder eine Verminderung dieser Muskelthätigkeit veranlassen und hierdurch die normale Verdauung der Nahrungsbestandtheile verlangsamen und behindern, oder im Gegentheile zu krampfhafter Steigerung der Magenbewegungen führen. Das Letztere giebt zuweilen den Anlaß zu dem eigenthümlichen Schauspiele, daß man bei hochgradig nervösen Individuen ein unaufhörliches, bald schwächeres, bald stärkeres Wogen und Zusammenziehen des Magens und der Gedärme sieht. In anderen Fällen findet durch nervöse Erregung ein so mächtiges Bewegen der Magenmuskulatur statt, daß Aufstoßen von Luft mit weithin hörbarem Geräusche zu Stande kommt. Es giebt nervöse Personen, besonders Damen, die von solchen heftigen Gaseruptionen aus dem Magen derart gequält werden, daß sie nicht nur auf jede Gesellschaft verzichten müssen, sondern durch jene Anfälle auch zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_160.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2024)