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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

etwas, das nicht hatte geschildert werden können und sich auch nicht schildern und nicht fassen ließ.

Da war es denn ein Glück für den Fassungslosen, daß, als eben Schlagododro meinen Namen genannt und ich irgend einen kläglichen Unsinn zur Erwiderung auf die anmuthige Neigung von Ellinor’s schönem Haupt gestammelt hatte, etwas geschah, das die Aufmerksamkeit völlig von mir ablenkte. Ein überschlanker junger Mann mit einem runden Hütchen auf dem blonden Kopf, einem dunkleren Jaquet und sehr hellen Inexpressiblen war, ich weiß nicht woher, plötzlich jenseit des Drahtgatters aufgetaucht, welches den Platz umfriedigte, und über das er sich jetzt zu schwingen versuchte, indem er sich mit der linken Hand auf einen der Holzpfähle des Gatters stützte. Er machte zwei vergebliche Ansätze; beim dritten kam er wohl herüber, aber nicht so elegant, wie es wohl seine Absicht war. Sein linker Fuß war gegen den obersten Draht geschlagen, oder er war, schon diesseits, beim Aufsprung auf ein Hinderniß gestoßen – er taumelte vornüber, versuchte sich, krampfhaft mit den Armen in die Lüfte fuchtelnd, zu halten, verlor immer mehr das Gleichgewicht und fiel der Länge lang in den Weg, auf dem wir standen, unmittelbar vor den jungen Damen, die erschrocken zurückprallten, während Schlagododro und ich hinzusprangen, ihm aufzuhelfen. Doch bedurfte er dessen nicht. Schon stand er wieder auf seinen Beinen – die, wie ich jetzt bemerkte, von beträchtlicher Länge waren – und begann, sich mit einem seidenen Taschentuche, das er aus der Brusttasche seines Jaquets gerissen, abzustäuben, indem er dabei wüthende Blicke auf uns warf, als ob wir an dem kleinen Malheur schuld wären.

„Ich kann wirklich nichts dafür,“ sagte Schlagododro, der sich ein für allemal eine Impertinenz nicht gefallen ließ, am wenigsten von jemand, den er noch vor zehn Minuten todtschlagen zu wollen erklärt hatte. „Ein andermal kommen Sie hübsch durch die Pforte, sie war nur zwanzig Schritte davon.“

„Danke Ihnen verbindlichst,“ sagte der junge Mann in ärgerlich schnarrendem Ton; „kam übrigens nur, um den Damen mitzutheilen, daß sie vermißt werden.“

Er hatte sich zu den Mädchen gewandt, die jetzt Arm in Arm standen und nach irgend etwas in den höchsten Wipfeln der Parkbäume zu sehen schienen, das sie sehr interessiren und sehr komisch sein mußte, denn Ellinor drückte sich das Taschentuch vor den Mund, und Maria’s Oberlippe zuckte, als sie, ohne die Augen von dem betreffenden Etwas abzuwenden, mit feierlichem Ernst sagte:

„Wir waren im Begriff zurückzukehren.“

„Inzwischen erlauben Sie mir, lieber Blewitz, Ihnen meinen lieben Freund Lothar Lorenz vorzustellen,“ sagte Schlagododro.

„Sehr erfreut!“ schnarrte der junge Mann, ohne die Augen von seinem kleinen runden Hut zu erheben, an dem er noch immer stäubte. Ich war der Meinung, daß Schlagododro’s Drohung völlig gerechtfertigt sei und daß, wenn es zur Ausführung einer Hilfe bedürfe (was übrigens entschieden nicht der Fall war), ich ihm dieselbe mit ganz besonderer Freude gewähren würde.

„Und nun können wir ja wohl gehen,“ sagte Schlagododro.

Wir gingen, die beiden Mädchen voran, Arm in Arm, eifrig leise sprechend, wir drei hinterher, ohne ein Wort zu wechseln. Das Schweigen drückte mich nicht. Ich dachte nicht mehr an das komische Intermezzo von vorhin, ich sah meine Begleiter zur Rechten und Linken nicht deutlicher, als ob sie Schemen gewesen wären – ich war in den Anblick des jungen Mädchens, das da wenige Schritte vor mir ging, völlig versunken, als wäre es ein magischer Stern, dem ich nur immer so zu folgen hätte, nur immer folgen möchte, es sei auch wohin es sei.

Für diesmal war es nach dem „Freiblick“, zu dem wir plötzlich gelangten, ohne daß ich zu sagen gewußt hätte, wie wir dahin gekommen: ein mäßig großer, altanartiger, von hohen Bäumen überschatteter Platz, dessen Seite nach dem Meere zu von einer Steinbalustrade geschützt war. Die Gesellschaft hatte eben aufbrechen wollen, blieb nun aber unserthalben. Schlagododro begrüßte der Reihe nach seine Mutter und die Gäste, und ich begriff jetzt, wie er, der sich von frühster Jugend auf in einem so großen Kreise bewegt hatte, zu seiner Sicherheit und Unbefangenheit gekommen war. Während er sich mit den Herren unterhielt, hatte mich seine Mama in Beschlag genommen, eine mäßig korpulente Dame, deren noch immer schönes weißes, runzelloses Gesicht einen wohlwollenden, aber etwas indolenten Ausdruck zeigte und von der Schlagododro seine Redseligkeit zu haben schien, nur daß seine Rede stets wie ein Bach vom Gebirge daher gerauscht kam, und die der Mama so glatt und ebenmäßig war wie ihr Gesicht oder die Spiegelfläche des Wassers, welches sich vor uns nach dem im letzten Abendgold verklärten Westen breitete. Ich hatte ein langes Examen zu bestehen, welches für mich, da es sich wesentlich um meine Familienverhältnisse, um meine Bildung im Allgemeinen und die religiöse im Speciellen handelte, ziemlich peinlich gewesen wäre, nur daß die Dame eine Antwort auf eine Frage selten abzuwarten pflegte, sondern, als hätte sie eine solche erhalten, in immer demselben ebenmäßigen Tone weiter sprach. Indessen schien der Ausfall der Prüfung kein mir ungünstiger gewesen zu sein, wenigstens hörte ich, als Schlagododro zu meiner Befreiung kam, wie die Dame zu einer andern langen, dürren, blonden, die fortwährend höflich lächelnd, aber ohne ein Wort hineinzusprechen, dabei gestanden hatte (Fräulein Drechsler, Ellinor’s Gouvernante, vermuthete ich), sagte: „Ein angenehmer junger Mann, aber die Aehnlichkeit finde ich nicht so sehr erstaunlich.“ Schlagododro hatte mich aber geholt, um mich mit den anderen Gästen bekannt zu machen: dem Oberförster von Candlin, einem ernst, fast melancholisch blickenden Herrn mit einem langen grauen Schnurrbart, in grünem, bis oben zugeknöpften Uniformrocke, und nun einem andern, der in einem dicht an die Balustrade herangeschobenen Krankenwägelchen saß, und von dem ich bis jetzt nur den langen, schmalen, gekrümmten Rücken und den breiten Schlapphut gesehen hatte. Jetzt, als Schlagododro mit mir zu ihm trat, hob er den Kopf, und ich blickte in ein bartloses, verwüstetes, in tausend Falten und Fältchen zerknittertes Gesicht, welches mir im ersten Moment uralt erschien, bis ich ihm in die Augen sehen konnte, die gar nicht alt waren, sondern einen sehr lebhaften, aber kalten stechenden Blick hatten, der jetzt in einer für mich unbehaglich prüfenden Weise starr auf mich gerichtet war. Er mochte merken, wie mich das genirte, denn er strich sich mit einer langfingerigen, durchsichtig weißen Hand über das zerknitterte Gesicht, das darauf plötzlich um zwanzig Jahre jünger erschien, gerade als ob er eine Maske abgenommen hätte.

„Nun,“ sagte er lächelnd, „da hätten wir also den klugen Pylades zu unserm Tollkopf von Orest. Mit Euch Beiden wollte ich schon Ehre einlegen, und Fräulein von Werin ist die geborene Iphigenie. Den Thoas übernehme ich: Thoas im Rollwagen, das ist eine feine Nüance, die durchschlagen muß. Was meinen Sie, Weißfisch?“

Die letzten Worte waren an einen Mann gerichtet, der, ich weiß nicht woher – vielleicht hinter dem dicken Stamm der nächsten Platane hervor – an den Wagen zu seinem Herrn getreten war. Ich schloß aber auf das dienerliche Verhältniß des Mannes aus dem Ton, in welchem ihn der Kammerherr angesprochen, nicht aus seiner Haltung, Miene oder Kleidung, wonach ich ihn wohl für ein Mitglied der Gesellschaft hätte halten müssen. Auch er war bartlos, wie sein Herr, und seine Augen, obgleich sie sehr hell und die jenes sehr dunkel waren, hatten denselben stechenden Blick, der eben jetzt, gerade wie vorhin der des Kammerherrn, prüfend auf mich gerichtet blieb, auch, als er auf die Frage jenes mit respektvollem Ernst sagte:

„Gewiß, Herr Kammerherr, das würde von einer zweifellos großen Wirkung sein. Man würde auch dann besser begreifen, weßhalb Arkas vergeblich für den König plaidirt.“

„Werden Sie nicht impertinent, Weißfisch!“ sagte der Kammerherr, mit dem langen Zeigefinger drohend.

„Ich spreche nur von der Bühnenwirkung,“ erwiderte der Mann, sich höflich verbeugend; „im Leben kann sich die Sache ja ganz anders verhalten.“

„Na,“ sagte der Kammerherr, „dann schieben Sie mich nur wieder ins Haus, damit ich mich nicht hier zum letzten Male im Leben erkälte! Die Andern sind schon voraus; vielleicht leisten mir die jungen Herren Gesellschaft.“

Weißfisch hatte sich hinter das Wägelchen gestellt, das er nun mit dem lahmen Herrn vor sich herschob, während wir diesem, wie er gewünscht, zur Seite blieben. Doch wurde die Unterhaltung wesentlich oder völlig von dem Herrn und Diener geführt, wobei es sich denn ausschließlich um theatralische Dinge handelte, speciell um eine Aufführung der „Iphigenie“ an jener kleinen Hofbühne zur Zeit der Intendanz des Kammerherrn. Es war viel

von einer Schauspielerin die Rede, die, eigentlich Sängerin, auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_167.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2024)