Seite:Die Gartenlaube (1886) 174.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

eilte, fragte ich: „Du willst es dem Prinzen mittheilen? Ich störe wohl, Lotte? Dann also auf Wiedersehen morgen.“

Ich erzählte Frau Roden, daß die Herzogin Lotte sehen wolle und sehr gnädig geschrieben habe.

„Es ist ganz gut, Tonchen,“ sagte sie und schüttete Bohnen aus dem Korbe in eine Schüssel. „Ja, ihre Durchlaucht, das glaube ich wohl, sie hat einen Narren an dem Jungen gefressen; aber der Herzog wird dem Sohne diese Heirath nie verzeihen; er ist so wie so gar nicht nach seinem Gusto eingeschlagen.“

„Warum hat er’s zugegeben?“ rief ich.

„Kindchen, wer hätte sich nicht einmal überrumpeln lassen!“

Und der Tag ging hin; Abends kramte ich Lotte zu Liebe noch ein wenig für meinen Anzug zurecht. Die alte Frau, die herauf gekommen war, saß in dem Sofa und studirte die Zeitungen. „Wer weiß, wie es jetzt da draußen aussieht?“ meinte sie.

Ach, wenn wir dorthin hätten blicken können, auf das blutigste Schlachtfeld des ganzen Krieges!

Strahlend heiter war die Sonne am andern Morgen aufgegangen. Frau Roden trippelte von ihrer Kaffeetasse ans Fenster, um nach dem Briefboten zu schauen; aber der machte heute nur eine bedauernde abwehrende Bewegung und ging vorüber.

„Ei, das ist garstig, Tonchen!“

„Vielleicht Mittag,“ trostete ich.

„Vielleicht!“ seufzte sie.

Und dann ward es zehn Uhr; ich saß am Schreibtisch der Frau Amtsräthin und half ihr das Rechnungsbuch durchsehen – da auf einmal schlug die große Glocke der Marienkirche an und alle anderen stimmten ein, daß die Luft voll Klang und Jubel war. „Eine neue Siegesnachricht!“ rief ich und stürzte zum Fenster, und nun liefen auch schon die Menschen nach der Schloßgartenmauer, wo eben ein riesiges Plakat angeklebt wurde. Aber die Leute waren so still, so gar nicht wie sonst; fast bestürzt schauten sie einander an.

„Tonchen, ich muß hinaus!“ rief die alte Frau und nach ein paar Augenblicken lief sie wie ein junges Mädchen unter den Kastanien dahin. Ich weiß nicht, warum es mir wie lähmend in die Glieder fuhr, und wie starr ich in das blasse Gesicht der Zurückkehrenden gesehen haben mag, als sie ans Fenster kam und mir herauf sagte:

„Eine große Schlacht gewonnen bei Gravelotte, aber unser Erbprinz ist gefallen!“

Der Erbprinz todt! Das war mehr als Trauer, was mich packte; es war die Ahnung kommenden Unheils.

Und derweil stand Lotte vor dem großen Spiegel ihres Ankleidezimmers, im weißen spitzenbesetzten Kleide, lächelnd, strahlend, selig, und wußte nicht, daß soeben ihr Glück zu wanken begann. Sie hatten im Schloß noch keine Ahnung, als ich athemlos die Treppe hinaus kam. Lotte probirte eben das Hütchen auf, dessen weiße Feder sich so leuchtend von dem dunklen Haar abhob.

„Guten Morgen, Lotte!“ sagte ich, so ruhig es mir möglich war. Aber ehe sie noch antworten konnte, stand Anita im Zimmer, leichenblaß, an allen Gliedern zitternd, ein Bild des Entsetzens.

Lotte sah sie und schrie auf: „Um Gotteswillen – er ist todt, Tone! Erbarme Dich!“ So gellend und markerschütternd klang es, ich werde es nie vergessen.

„Nein, Lotte, Dein Mann nicht – der Erbprinz ist es, er fiel bei St. Privat.“

„Der Erbprinz ist gefallen? der Erbprinz?“ stammelte sie, „der Erbprinz? – Ach Gott, ich danke Dir!“ und sie brach in Thränen aus.

Anita stand noch immer keines Wortes mächtig; wir überhörten das leise Räuspern hinter der Portiere, die Schritte auf dem Teppich, erst als jemand flüsternd sagte: „Eine Depesche für Frau Gräfin,“ erblickten wir den Aelteren der beiden Lakaien, der wie mitleidig auf die weinende junge Frau schaute.

Sie nahm das Papier, öffnete und las:

 „Grunen unmöglich.
 von Oerzen.“

Das war der kurze, vielsagende Inhalt –. „Unmöglich!“ hörte ich Anita wiederholen.

Und draußen läuteten die Glocken weiter, und Stimmen und Tritte vieler Menschen schallten herauf. Als ich an das Fenster trat, standen die Leute Kopf an Kopf und sahen empor, als müßten sie hier die Bestätigung der Todesbotschaft erfahren. Und gleichsam zur Antwort sank eben die Flagge auf dem thurmartig vorgeschobenen Ausbau des Schlosses herunter, bis auf halb Mast –. Sie zeigten nach dem Thurme, sie blickten wieder nach den Fenstern. sie standen in stummen Scharen, und immer neue kamen hinzu.

Und hier innen saß Lotte und weinte den Schreck hinweg und dankte Gott inbrünstig, daß Er den Geliebten beschützte.

„Ist kein Trauergottesdienst?“ fragte sie dann. Anita wurde auf Kundschaft gesandt. Mit fast heiserer Stimme meldete sie, die Leute strömten schon zur Kirche.

„Komm, Tone!“ sagte Lotte. Mitten durch das Gewühl schoben wir uns und gelangten in das kühle von Menschen überfüllte Gotteshaus. Der Küster, der uns erblickte, wollte die fürstliche Empore aufschließen, aber er konnte vor Aufregung den Schlüssel nicht finden, und schon setzte die Orgel ein. „Gehen wir in den Rodenschen Kirchstuhl,“ flüsterte ich, „in dem Gedränge können wir nicht bleiben.“

Sie folgte mir, noch in dem leichten Sommerkleide, mit dem sie sich für die Fürstin geschmückt hatte; ihr Antlitz war blaß und ein wunderbarer Ausdruck von Angst, Schmerz und Glück darin. Als ich eintrat, erblickte ich im Schatten des Pfeilers Frau Roden: sie saß im Hauskleide und ihrem schlichten Häubchen, nur ein Tuch über die Schultern, die Hände um das Gesangbuch gefaltet, und da stand Lotte vor ihren Augen! Ich hatte an dies Begegnen nicht gedacht; aber die alte Dame sah die schöne Frau nicht an, und als Lotte sich auf die gegenüberliegende Bank setzte, winkte sie mich neben sich.

„Tone,“ klang es in namenloser Angst, „er war dabei, gestern – sein Regiment war mit! Und der König von Preußen sagt in der Depesche selbst: ‚Ich wage nicht nach den Verlusten zu fragen.‘ – Wenn mir Gott das gethan hätte!“ Und sie hielt meine Hand in ihrer zitternden Rechten und vermochte nicht mit einzustimmen in das Lied, das jetzt von der Orgel herabbrauste und in das Hunderte von Menschenstimmen einfielen:

 „Was Gott thut, das ist wohl gethan!“

Mir aber ward plötzlich, als sei alles Licht, alle Farbe geschwunden um mich her; ein grauer gespenstiger Schleier wogte vor meinen Augen, ich hörte nur das Eine: „Tone, er war dabei!“ – Barmherziger Gott, Du mußtest ihn beschützen! schrie es in mir. Und dann scholl des Predigers Stimme herauf:

„Die Edelsten in Israel sind auf Deiner Höhe erschlagen! Wie sind die Helden gefallen und die Streitbaren umgekommen!“

„Herr, Du hast Schweres gefordert, die Hoffnung des Landes hast Du uns genommen, den Edelsten aus unserer Mitte. Im Fürstenschlosse der Residenz weinen greise Eltern, trauert unsere geliebte Erbprinzessin, die erst vor Jahresfrist ihre Hand in die des Gatten legte, der nun gestern den Heldentod gestorben an der Spitze seiner Schar. Und doch hat unser Herzog gesagt, und wir dürfen es getrost mit ihm sprechen: ‚Heil ihm und Allen, die dort liegen auf der blutigen Walstatt, sie starben nicht umsonst, sie fielen für das Vaterland!‘ – Noch wissen wir nicht, die wir hier versammelt sind, wer von uns dort draußen auf dem Schlachtfelde einen Sohn liegen hat, einen Bruder, einen Gatten, denn heiß war der Kampf, und viele – viele sind’s der Todten. Doch wen es auch treffen möge, er sehe hin auf unser Fürstenhaus, dessen Mitglieder in Demuth und Ergebung ihre Kniee beugen, und spreche wie sie: Herr, Dein Wille geschehe!“

Herr, Dein Wille geschehe! – Ach, wie Wenige vermochten wohl demüthig und fromm dies nachzusprechen! Die alte Frau saß schier unheimlich still da. Sie hat mir später gesagt: „Ich ging in die Kirche und konnte doch nicht beten.“ – Und mir, mir ging es ebenso.

Als wir hinaustraten auf den von Menschen wimmelnden Kirchplatz, hatte sich der Himmel bezogen, und fernes dumpfes Murren ließ sich hören. Ich führte Frau Roden am Arm; Lotte, von Anita gefolgt, eilte voran, es war ihr wohl peinlich neben uns zu gehen. Ich sah der schönen Frau nach, wie sie durch die Menge ging, die ihr ehrerbietig auswich; manch einer zog den Hut, aber sie blickte nicht rechts noch links.

Da hörte ich eine Stimme aus dem Menschenstrom: „Wenn die Erbprinzessin einen Sohn haben wird, nun, dann bleibt’s beim Alten, sonst haben wir den Otto.“

„Daß Gott erbarm!“ murmelte es dicht neben mir, „da wollen wir beten, daß es ein Prinz ist.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_174.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2020)