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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ich sah fragend auf Frau Roden. „Die arme Erbprinzessin!“ sagte diese.

„Und wenn es ein Mädchen?“ forschte ich und das Herz stockte mir.

„Dann wird Prinz Otto Thronerbe.“

Um Gotteswillen – und Lotte? Mir war es, als müßte ich ihr nachstürzen, ihr sagen: „mache Dich bereit, nimm Abschied von Deinem Glück!“ Aber noch war nicht Alles verloren, noch war das fürstliche Kind nicht geboren – sie durfte noch hoffen. – Und auch wir. Noch war ja keine Schreckenskunde in das alte Herrenhaus gelangt, noch stand die Hoffnung neben uns, die milde Trösterin.

In der Wohnstube auf der Domaine ward es dunkel, das Gewitter kam herauf. Gegen ihre Gewohnheit saß Frau Roden ruhig in ihrem Lehnstuhl und sah starr in die rauschenden wogenden Kastanienzweige vor dem Fenster. Zuweilen stöhnte sie leise auf. „Ein Zeichen nur, daß er lebt!“ murmelte sie. Aber es kam keines. Angstvoll hockte ich ihr zu Füßen auf der Estrade; still war es im Hause, still in den Straßen, nur der Regen rauschte hernieder, einförmig und trübselig. Die Nacht brach an; umsonst ward das Abendessen aufgetragen.

Wir gingen zu Bette und standen übernächtig wieder auf, während der langen bangen Nacht unaufhörlich die Frage wiederholend: lebt er? Und ich antwortete mir: „Er ist todt, er ist todt; er hat den Tod gesucht, weil er ohne Lotte nicht leben will!“ – der Gedanke verfolgte mich mit furchtbarer Gewalt und ward endlich in meinem Herzen zur Gewißheit.

Am andern Morgen erschienen die Extrablätter mit den Details des Kampfes, und ich erschrak über die Zahl der Gefallenen. Die Garde hatte am meisten gelitten.

„Herr Gott, gieb mir Kraft,“ sagte die bleiche Frau, und die Hände vermochten das Blatt nicht mehr zu halten.

Gegen Abend kam ein Telegraphenbote in das Haus. Es war ein schrecklicher Moment, als die alte Dame die Depesche in Empfang nahm: „Geben Sie mir einen Stuhl, Tone – so – und Licht –.“ Und dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und löste zögernd die Oblate.

„Tone!“ sagte sie nochmal.

Da konnte ich nicht anders, ich knieete vor ihr nieder und barg den Kopf in ihren Schoß. Ich hörte das Knistern des Papiers und den Seufzer, der ihre Brust hob.

„Verwundet am Arm. Nicht Angst haben, bald Nachricht. Neben mir fiel Hans von Werthern."

Sie hatte es tonlos vorgelesen. Ich hob den Kopf, und wir schauten uns in die Augen. „Hans!“ schluchzte ich. Es war eine Todesnachricht, die ich gehört! Der Bruder, der einzige war es, und dennoch kam es wie süßer Friede über mich; ich konnte weinen, mit Ehren um ihn weinen. Mein erster Gedanke galt der alten Frau, die draußen auf dem Friedhof lag. Ach Großmutter, Art läßt nicht von Art. Er kam aus Amerika – um hier zu sterben fürs Vaterland! Er hat Alles, Alles gut gemacht!

Frau Roden war wie umgewandelt. „Mein Junge muß her!“ Damit stand sie auf, zog sich an und streichelte mich: „Tonchen, ich fühle mit Ihnen! Ja, gehen Sie nur zur Gräfin, ich gehe auch; der Müller muß hin, er muß den Jungen holen, wenn er –“ sie verschluckte ihre Thränen – „noch zu holen ist.“

Sie begleitete mich hinaus, und während sie nach der Verwalterwohnung schritt, eilte ich zu Lotte. Sie saß am Tisch, vor sich das Bild des Prinzen.

„Lotte,“ fragte ich, nicht wissend wie ich es anfangen sollte, ihr die Nachricht vom Tode des Bruders, an dem sie mit leidenschaftlicher Liebe hing, so schonend wie möglich mitzutheilen, und setzte mich neben sie auf die Chaise longue, „hattest Du Briefe?“

„Nein,“ erwiderte sie. „Ach doch,“ setzte sie dann in einem Tone hinzu, mit dem man von etwas Nebensächlichem spricht, „einen Brief von Hans; er ist herübergekommen, um den Feldzug mitzumachen. Wäre er lieber dort geblieben; es ist so schrecklich peinlich, er könnte mir doch Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn er nur Otto nicht in den Weg laufen möchte, um etwa seine Vermittelung zu suchen für persönliche Angelegenheiten.“

Ich sah zu Boden, und die Thränen liefen mir über das Gesicht. Den ungeliebten Bräutigam hatte sie um Unterstützung für ihn gebeten; Fritz Roden sollte es sich zur Ehre schätzen, dem leichtsinnigen Schwager Geld über Geld zu geben –. Der Gedanke, der Bruder könne sich dem Prinzen nähern, machte sie tief verstimmt. Auch die schwesterliche Liebe hatte sie als unnützen Ballast über Bord geworfen, als sie in das fürstliche Schloß zog.

„Warum weinst Du?“ fragte sie ungeduldig.

Da legte ich ihr die Depesche auf den Tisch und ging ins Nebenzimmer. Sie hätte mich doch nicht ansehen können in diesem Augenblick.

Nach einer Weile folgte sie mir und fiel mir leidenschaftlich schluchzend um den Hals. Und wir saßen in dem dunklen Zimmer, Hand in Hand und weinten um unseren Hans. Ich wußte, sie gäbe viel, viel in diesem Augenblick, hätte sie die letzten Worte über ihn nicht gesprochen. – Nun schwiegen wir Beide; was war auch noch zu sagen?

Als ich spät herüber kam, fand ich das Haus noch lebendig: Frau Roden packte eben in eine Reisetasche Wein, Liköre und alle möglichen Eßwaaren; ein Koffer stand schon fertig. „Darin ist Wäsche und Leinwand, Tonchen,“ sagte sie, „um elf Uhr in dieser Nacht fährt Müller ab.“

Um halb elf Uhr kam er, in Ueberrock und Hut, einen mächtigen Spazierstock in der Hand und einen Mantel über dem Arm. Er war ein stiller ernster Mensch von ungefähr fünfzig Jahren; in derselben gelassenen Weise, wie er seinen täglichen Geschäften nachging, setzte er sich an den Tisch, um eine Reisestärkung zu nehmen, zu der ihn die alte verweinte Herrin nöthigte.

„Müller,“ sagte sie, „ich denke, Sie werden sich wohl durchfinden, Deutsche giebt’s da überall; fragen Sie nur immer, wo Sie hinkommen, ob ein Lazareth in dem Orte, und dann suchen Sie, suchen Sie nur unverdrossen, Sie werden ihn ja doch erkennen, und wenn er noch so jammervoll aussehen sollte, nicht wahr, Müller?“

„Ja, Frau Amtsräthin,“ erwiderte er, „ich werde ihn schon kennen.“

„Und geben Sie alle Tage Nachricht; die Feldpostkarten stecken da in der Koffertasche, und Tinte und Feder: und schonen Sie nur das Geld nicht an unrechter Stelle, ich weiß Ihre Sparsamkeit sonst sehr zu schätzen, aber hierbei nicht.“

„Ja, Frau Amtsräthin.“

„Müller, ob Sie ihn wohl finden?“

„Ich denke doch!“

„Ach, es mag bunt dort aussehen – lieber Gott!“

„Nun, das schon, Frau Amtsräthin!“

„Müller, und wenn er sehr, sehr krank ist, dann telegraphiren Sie mir, dann komme ich; ich werde mich schon durchfinden. Sehen muß ich ihn noch einmal, und wenn er mich auch nicht mehr kennt –. Und, Müller, wenn das Allerschlimmste, – wenn sie ihn schon begraben hätten – den Fleck doch wenigstens, wo mein Letzter liegt –.“

Sie weinte leise in ihr Tuch, und Müller aß weiter, aber in seinen grauen Augen flimmerte es ebenfalls feucht. „Na, Frau Amtsräthin,“ sagte er nach einer Pause, „so schlimm wird’s ja nicht gleich sein, und da hilft nun das Weinen nichts, da heißt’s: den Kopf oben. – Das ist der Krieg: Sie weinen nicht allein, Frau Amtsräthin.“

„Ja, Müller, es hilft nichts, Sie haben Recht; und ich bin ja auch keine schlechte Patriotin, ich will ja gern Alles für das Vaterland hingeben, und ich bin ja so stolz, daß wir gesiegt haben. Wenn ich aber daran denke, was es für mich heißt, mein letzter Junge ist hin, er kommt nicht wieder, er tritt niemals mehr über die Schwelle dort und sagt nie wieder ‚Mutter‘ zu mir – in den Augenblicken, da denke ich nicht an Ruhm und Ehre, da denke ich nur, daß mir alten Frau die letzte Stütze unter den Armen weggezogen ist, daß kein Sonnenstrahl meine alten Augen wieder treffen wird –. Ach, Müller, und da fragen Sie einmal alle die Mütter, die seit gestern da draußen ein Kind, einen blühenden Jungen, kalt und starr liegen wissen, ob eine von ihnen sich hinstellt wie eine Heldenmutter und Gott für die Ehre dankt, daß ihr Kind den Tod fürs Vaterland sterben durfte? Nein, sie sind Alle in die Kniee gebrochen und haben Alle nur das Eine empfunden, Schmerz, heißen Schmerz. Von den Frauen rede ich, Müller, von den Müttern, aber darum haben wir unser Vaterland doch lieb.“

„Freilich, Frau Amtsräthin,“ erwiderte er bedächtig, „ich weiß es von meiner seligen Schwester, wie die gejammert hat, als ihr jüngster Sohn bei Königgrätz geblieben ist –. Ja, das soll wohl sein: sie haben die Kinder groß gezogen und hängen jeden Tag

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_175.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2020)