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Straßen-Künstler.

wo das glückliche reiche Mitglied zu billigsten Preisen die vorzüglichsten Genüsse erlangen kann, bin ich in eine der seitwärts gelegenen Straßen gelangt und hätte beinahe auf eine Reihe von Bildern getreten, die dicht an der Mauer mit buntfarbiger Kreide zum Theil unmittelbar auf das Trottoir gezeichnet sind. „Pity the poor Artist!“ steht darunter. Und daneben liegt er selbst, der „Künstler“ von zerlumptem und verhungertem Aussehen. Der Hut ihm zur Seite mit einigen darin enthaltenen kleinen Münzen deutet uns an, welches die Zielscheibe unserer „Mildthätigkeit“ sein soll. Ach, man begegnet diesem „Bild von Bildern“ oftmals in den Londoner Straßen. Es herrscht schreckliche Armuth in dem reichen London! –

Da kommen sie angezogen – ein Mitleid erregender Trupp! Vater, Mutter und ein halbes Dutzend hohlwangiger lumpenbedeckter Kinder. Sie singen. Das Betteln ist ja verboten, aber Gelderwerb durch Gesang, ist das nicht eine ehrliche Profession? Nicht ebenso ehrlich wie die Kunst der „Malerei“? O über die Ironie gesetzgebender Weisheit, die den Mildthätigen nöthigt, für sein Almosen auch noch das ohren- und herzerschütternde Gesinge mit in den Kauf zu nehmen! Erst dadurch wird seine Handlungsweise gesetzmäßig! Doch jener andere singende Trupp – ist sein Anblick nicht noch peinlicher? Es ist ein Häuflein der „Erlösungs-Armee“. Da halten die „Truppen“ an der Ecke. Einer aus ihrer Mitte beginnt – zu predigen, ein ungebildeter, fanatischer Gesell. Ist es nicht Gotteslästerung viel mehr als Gottesdienst? Fort, nur fort von diesem phrasenhaften Geschwätz! Da tritt eine alte Person aus dem Haufen mit einem widerwärtigen Grinsen auf mich zu. Sie will mir ein „Trakt“ in die Hand drücken. Mir ist’s, als wäre es ein schmutziges Orgellied, und ich eile davon. Starr blickt sie mir nach. Es sollte wohl eine milde Wehmuth in diesem Blicke liegen, als wollte sie sagen: „Bist du denn so tief in des Satans Krallen, daß du vor einer bloßen Berührung mit uns Heiligen zurückbebst? – Ha, wie ihn das böse Gewissen jagt!“

Außer Dienst.

Ich wollte diesem Lärm entfliehen, bin aber dafür in den Bereich einer dröhnenden Drehorgel gekommen, deren Tänze selbst den Straßenlärm übertönen. Die ausübenden Künstler dieser Instrumente sind in London durchweg Italiener, während die eigentlichen Straßenmusikanten – „the German bands“ – hier fast ausschließlich vaterländische – Missethäter sind. Ihre englischen Kollegen huldigen, vor einer Schenke aufgestellt, lediglich dem seltsamen Trio, das mittelst Trompete, Harfe und Geige hervorgebracht wird, und thun auf diese Weise dar, daß auch „das Strenge mit dem Zarten gepaart“ nicht immer „einen guten Klang“ zu geben braucht.

So sollte man sich fast versucht fühlen, das Londoner Pflaster als die recht eigentlich heimische Stätte aller schönen Künste zu betrachten. Ach, sie allesammt, die ihnen hier obliegen, sind eine große Plage für das Londoner Leben. – Doch bin ich nicht selbst ausgezogen, heute den Stoff für diese Schilderung und somit mein Brot auf der Straße zu suchen? Wer es soweit gebracht, sollte der nicht gelernt haben, nachsichtiger über seine Umgebung zu urtheilen?

Ein seltsames Trio.

„Special Echo“, „Latest Edition: Globe“ schreit plötzlich ein zerlumpter Bube dicht an meiner Seite, der die Abendblätter feilbietet. Er fügt auch noch einige mysteriöse Andeutungen von einer entsetzlichen Mordthat, über die in den Blättern berichtet sein soll, hinzu, um für sein umfangreiches Bündel, das er unter dem Arme trägt, leichter Absatz zu finden. Hat er dann ein Blatt an den Mann gebracht, so macht er sich weislich aus dem Staube und überläßt es dem Leser, nach jener Schreckensthat in den Spalten der Zeitung sich umzusehen. Der kann aber meistens recht lange suchen!

Ein Jünger der Wissenschaft.

Knaben werden hier für viele Verrichtungen verwandt, die man in Deutschland Männern übertragen zu müssen glaubt. Leider müssen sie oftmals selbst dann schon an strenge Arbeit, wo sie sich offenbar noch in dem Alter befinden, in welchem ihnen die Schulbank viel mehr noth thäte, als das Straßenpflaster. Auf der andern Seite ist es aber auch nicht zu leugnen, daß eben diese frühzeitige Selbständigkeit, diese Schule des Lebens eine treffliche Lehrmeisterin abgiebt. Das kann man schon dem ganzen Auftreten der Burschen selbst ansehen. So sind sämmtliche Stiefelputzer an den Straßenecken ganz junge Burschen. Sie bilden eine eigene „Brigade“, die sich aus verwahrlosten Knaben immer wieder aufs Neue rekrutirt und über 400 „Shoeblacks“ zählt. Außer einem reinlichen Unterkommen erhalten dieselben Kost und als Uniform einen Flanellkittel, der, je nach der Abtheilung, zu welcher sie gehören, von besonderer Farbe ist, meistens roth oder blau. Dafür müssen sie eine gewisse Summe ihrer täglichen Einnahmen abgeben, die sich insgesammt auf nahezu 12 000 Pfund Sterling jährlich belaufen sollen. Andere Buben stellen sich an den Straßenübergängen auf, mit dem Besen in der Hand und fegen dann auch wohl einen kleinen Weg quer über die Straße. Es hat gewiß seine Annehmlichkeiten, wenn man bei schmutzigem Wetter auf die andere Seite der Straße zu gelangen hat und sich dann einer solchen gefegten Bahn bedienen kann. Rathsamer aber wäre es jedenfalls, die städtische Behörde ließe fegen. Die Thätigkeit der kleinen Crossing Sweepers, die auf eigene Hand den Besen führen, ist kaum etwas Anderes, als ein Deckmantel für Bettelei. Selbst die Telegraphenboten sind, wenn nicht geradezu Knaben, doch junge Burschen im Alter von vielleicht vierzehn bis siebzehn Jahren. Dagegen mag sich manches einwenden lassen; allein bei der Telegraphie ist doch eine schnelle Befördernng der Depeschen wohl die Hauptsache, und in dieser Beziehung dürften auserlesene junge Burschen in diesem Alter ausgedienten Soldaten nicht nachstehen.

Straßen-Kehrer.

Eine angenehme Erscheinung auf dem Londoner Pflaster ist mir allemal der Londoner

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_181.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2024)