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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Gesichtern standen die Leute vor den Hausthüren und selbst dem kleinsten Kinde auf dem Arm wurde erzahlt: „Napoleon ist gefangen, seine Armee hat die Waffen gestreckt!“ und das älteste Mütterchen nickte mit dem Kopfe und dachte an langst verflossene bange Kriegsjahre.

Napoleon gefangen! Herr Gott, Du bist gerecht!

Und da kamen durch des Hauses Stille Töne zu mir herauf, schwach und zitternd und so vergangen, wie die Klänge des ehrwürdigen tafelförmigen Instrumentes, die sie begleiteten –. Eine alte Frauenstimme sang: „Nun danket alle Gott!“

Da lief ich die Treppe hinunter, stellte mich hinter den Stuhl der Frau Amtsräthin und fiel ein mit meinem jungen frischen Sopran: „Der große Wunder thut an uns und allen Enden!“

Wie das klang, und wie ich das Bild über dem Klavier nur noch durch Thränen sehen konnte, das ernste hübsche Männergesicht –; und wie es mir auf einmal wieder so unmöglich dünkte, fortzugehen aus diesem Frieden!

Ja, viel edler Frieden in Land und Haus und Herzen, mein Tonchen,“ sprach die alte Dame leise und drückte meine Hand. „Und nun kommen Sie mit in den Keller; heute Abend sollen die Leute jeder sein Glas Wein haben; da liegt noch ein Fäßchen rother Elsässer, den mögen sie austrinken; Jürgen soll ihn heraufbringen. Und dann können wir die Lichter anzünden; ich glaube, im Kaufladen an der Ecke brennen sie schon.“

Aber die alte Frau mußte allein in den Keller steigen, denn Lotte ließ mich plötzlich rufen. Als ich eilig zu ihr in das erleuchtete gelbe Gemach trat, war das Gewitter schon emporgezogen und stand gerade über dem Haupte der todtblassen Frau, die mir, scheinbar so ruhig, entgegentrat. – Daß es so rasch kam, wer hätte das gedacht!

„Kammerherr von Oerzen,“ sagte Lotte vorstellend; und aus einem der Sessel, die sich um den runden Tisch inmitten des Zimmers gruppirten, erhob sich ein schlanker Mann von vielleicht fünfundfünfzig Jahren, in schwarzem Anzug, den Trauerflor um den Arm, den glänzenden Hut in der Hand, und verbeugte sich formell. Er ließ ein verlegenes Hüsteln vernehmen, sah mich mit seinen blaßblauen Augen neugierig forschend an und nahm erst wieder Platz, als Lotte in ihren Stuhl zurücksank und ich mich neben sie gesetzt hatte.

Es war unheimlich still im Zimmer, nur durch die geöffneten Fenster drang ferne Musik, Jauchzen und Schreien.

„Siegesjubel!“ begann der Kammerherr endlich, indem er sich zu mir wandte. „Die glänzende Außenseite! Und wie traurig in der Einzelwirkung oft doch der Krieg, wie manches blühende Leben, wie manche schöne Hoffnung wird zerstört! Da giebt es für den Einzelnen, von dem ein schweres Opfer gefordert wird, nur den Trost: Es ist für das allgemeine Wohl.“

Er sah zu Lotte hinüber, um deren blasse Lippen es zuckte, wie in bitterem Hohn. Sie erwiderte kein Wort.

„Gnädige Gräfin werden das sicher voll und ganz verstehen?“ fragte er, sich lächelnd verbeugend, wobei seine Augen durchdringend an ihrem unbeweglichen Antlitz hingen.

„Nein,“ erwiderte Lotte, „ich verstehe es nicht und will es nicht verstehen, Herr von Oerzen! Haben Sie die Gute, dem Herzog zu sagen, daß Sie leider mit einer Frau zu verhandeln das Unglück hatten, die so schwer von Begriffen ist, daß sie das Wohl des Ganzen nicht zu erfassen vermag; daß sie aber eine Frau ist – eine Frau, die ihren Mann unsagbar liebt und schon deßhalb gar keinen Platz mehr in ihrem Herzen übrig hat für die ‚andern Interessen‘. Sagen Sie dem Herzog, daß diese Frau von Politik keine Ahnung besitzt, aber daß sie verstände, treu zu sein und ihr Wort zu halten.“

Lotte hatte mit mühsam beherrschter Stimme gesprochen. Sie stand auf bei den letzten Worten, neigte vornehm ihren schönen Kopf gegen den verblüfften Kavalier, und im nächsten Augenblick fielen die gelben Seidengardinen hinter ihrer schlanken schwarzen Gestalt zusammen.

Ja, nun wußte ich es, – es war soweit –. Ich wollte ihr nach, aber der Kammerherr hielt mich wie verzweifelnd zurück.

„Gnädiges Fräulein,“ sagte er ernst, „es ist ein furchtbar peinlicher, ein sehr delikater Auftrag, mit dem ich vor die Gräfin getreten bin. Helfen Sie mir, stehen Sie mir bei! Es ist eine Angelegenheit der kältesten Vernunft, der Politik; und ich begreife, daß sie in einen Liebesfrühling fallen muß wie ein vernichtender Frost. Aber es giebt so eiserne Nothwendigkeiten, so unabweisbaren Zwang, daß – daß –“

Er hielt inne und wischte sich die Tropfen von der Stirn.

„Ich weiß, was Sie meinen, Herr von Oerzen –. Jeder Mensch ahnte, was kommen würde nach dem Tode des Thronerben und der Geburt des todten Prinzen, nur meine Schwester nicht, meine arme Lotte.“

„Gnädiges Fräulein – die Tradition, die Sitte ist unerbittlich, eisern –; aber sie muß es sein -.“

„O, ich verstehe Sie völlig,“ erwiderte ich, und die Stimme zitterte mir. „Sie sagten es ja vorhin deutlich genug: ‚Der Einzelne muß zurückstehen vor dem Ganzen‘. Es klingt wundervoll und mag auch sehr edel sein, aber – –“

„Aber Sie haben die Antwort der Gräfin gehort,“ unterbrach er mich hastig. „Ich kann, ich darf sie dem Herzog nicht überbringen; ich muß mindestens mit einem Schein von Nachgiebigkeit zurückkehren.“

„Sie kennen meine Schwester nicht!“

„Mein Gott, gnädiges Fräulein, die Gräfin ist eine so außerordentlich feinfühlende kluge Dame, – sollte sie nicht einsehen, daß der Prinz Otto eben nicht mehr seinen Neigungen leben kann, daß er ernste Pflichten zu erfüllen hat?“

„Sie liebt ihren Gatten,“ stammelte ich, und die Thränen kamen mir in die Augen.

„Ich beschwöre Sie, gnädiges Fräulein, schaffen Sie mir noch eine Viertelstunde Gehör bei der Gräfin.“

„Ich will es versuchen,“ antwortete ich und schritt mit Herzklopfen in das nächste Gemach. Sie war nicht hier, aber aus dem folgenden Zimmer drang ein Stöhnen in mein Ohr; ich eilte hinüber und stand gleich darauf in der Schlafstube. Die Ampel an der Decke verbreitete rosiges Licht in dem traulichen Raume und entlockte der Fürstenkrone uber dem blau verhangenen Bette, welche die schweren seidenen Falten am Plafond zusammenhielt, ein mattes Blinken. Unhörbar schritt der Fuß über den blauen rosenbestreuten Teppich, und ich kniete nieder neben Lotte, die wie ein Marmorbild in einem Fauteuil saß, der Lampe den Rücken zugewandt, die starren Augen auf das lebensgroße Oelbild des Prinzen gerichtet, die Hände fest in einander geschlungen. Sie bemerkte mich erst, als ich sie leise berührte.

„Lotte, meine gute Lotte!“ sagte ich weich.

„Was willst Du?“ fuhr sie empor.

„Ich glaubte, Du weintest, Lotte.“

„Ich? Nein – warum? Weil der Herzog mir diese Vogelscheuche geschickt hat? Nein! Empört bin ich – aber Otto wird mich zu rächen wissen! – Weißt Du, warum er kam, Tone?“ fuhr sie aufgeregt fort. „Ich sollte mich hinsetzen und ihm schreiben: da er nun den zweifelhaften Vorzug habe, Erbprinz von X. X. zu sein, so wollte ich seinem Glück nicht im Wege stehen und gebe ihm die Freiheit – die Freiheit, sich irgend eine Prinzessin zu wählen, denn eine solche muß es ja sein. Ich, Tone, ich sollte das schreiben mit dieser Hand, mit der ich jeden Tag versichert habe, daß ich ihn in alle Ewigkeit lieben werde! Ich soll ihn fortweisen und habe ihn kaum besessen! Eine angemessene Rente haben sie mir anbieten lassen, und die unbegrenzte hochfürstliche Dankbarkeit noch als Zugabe – Mein Gott!“

Sie schwieg, und ihre kleine Hand, an welcher der Trauring funkelte, griff in das Haar und krallte sich dort fest. „Niemals!“ wiederholte sie, „niemals. ich lasse mich nicht schieben!“

„Lotte,“ bat ich, „Herr von Oerzen will Dich nur noch einmal auf einen Augenblick sprechen.“

„Nein!“ rief sie und sprang empor. „Nein! – Sage Du ihm, Prinz Otto’s Sache wäre es, die unbequeme Frau zu verstoßen, und keinem andern Spruche fügte ich mich, niemals! Und er,“ sie sank wieder zurück in den Sessel und fügte wie beruhigt hinzu – „er liebt mich! Bestelle ihm, das wäre mein letztes Wort.“

„Die Frau Herzogin wünscht, ihr das Bitterste zu ersparen,“ lispelte der Kammerherr schier fassungslos ob meiner Antwort, „ihm und ihr. Die Frau Herzogin sprachen heute früh noch zu mir darüber, daß es für die Gräfin unendlich viel angenehmer sei, sie gäbe ihm in edler Uneigennützigkeit die Freiheit zurück, als wenn der Prinz ihr sagen muß: ‚Mein liebes Kind, so und so – ich habe Dich heiß geliebt, aber die Verhältnisse –.‘ Sie verstehen, Fräulein von Werthern?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_196.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2020)