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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Es scheint Alles viel schlimmer, als es ist; ich bin matt von der Reise. Wie gut, daß ich daheim!“

„Ja, mein lieber alter Junge,“ sagte Frau Roden, „nun wollen wir Dich bald gesund kriegen, aber sprich nicht so viel.“

Als Doktor Rother ihn untersucht hatte, erhielt ich meine erste Anleitung in der Pflege von Wunden. „Sorgfalt, Fräulein von Werthern, und Akkuratesse, große Akkuratesse!“ sagte der freundliche alte Mann. „So halten Sie den Arm – so ist’s recht, es wird schon werden, dazu können wir am besten eine junge weiche Frauenhand gebrauchen; gelt, Du armer Kerl?“

„Versteht sich, Pathe!“ erwiderte er mit einem Versuch zu scherzen.

„Ja, ja, das glaub’ ich wohl! Na, nun nur hübsch ruhig, und gutes kräftiges Essen und frische Luft und Geduld, dann wollen wir Dich schon auf die Beine bringen. Und, Fräuleinchen, Akkuratesse! Akkuratesse!“

Er strich dem Kranken über das Gesicht und ging, um ein wenig zu essen, und Frau Roden war froh, daß ihre Vorbereitungen doch in Etwas zur Geltung kamen. Ich führte den alten Herrn hinüber an den festlich gedeckten Tisch, an dem Müller schon Platz genommen hatte. „Nun leisten Sie mir Gesellschaft,“ bat er mich und goß sich Rothwein ein.

„Herr Doktor,“ fragte ich, „er ist sehr krank?“ –

„Herunter ist er, furchtbar herunter! Aber er kommt auch wieder herauf. Prost. Fräulein von Werthern, auf das Wohl des Kranken!“

„Wir haben nichts zu befürchten?“

„Fürchten? Fürchten? Wenn ich mir einen Holzsplitter einreiße, habe ich ebenfalls zu fürchten. Seien Sie gescheit, kleines Fräulein, und essen Sie hier mit; sehen Sie nur, wie goldbraun die Mamsell die Hähnchen gebacken hat.“ Und der allezeit lustige Mann hieb tapfer darauf ein, und ehe ich’s versah, waren die beiden Herren in ein eifriges Feldzugsgespräch verwickelt, und Müller gab haarsträubende Berichte aus den Lazarethen zum Besten.

Als der Doktor endlich nach der Uhr sah und rasch aufstand, um Hut und Stock zu ergreifen, sagte er im Flüstertone: „Er wird fiebern, Fräulein von Werthern, erschrecken Sie sich nicht, und lassen Sie die kleine schwächliche Frau sich nicht ängstigen und überanstrengen; die Wunde ist durch den Transport etwas entzündet. Zur Noth Eisumschläge auf den Kopf, Sie haben’s ja im Keller. Ich komme morgen mit dem Frühesten.“

„Hat ihm die Reise geschadet?“ rief ich angstvoll.

Er zuckte ungeduldig die Schultern. „Liebes Kind, es ist eine schwere Verletzung, und für dergleichen pflegt eine lange Eisenbahnfahrt nie von Vortheil zu sein. Aber tausendmal besser, er liegt hier in dem sauberen Hause als in vom Lazarethfieber durchseuchten Räumen. Nur den Kopf oben, sonst kann ich Sie nicht als Pflegerin gebrauchen.“

Nein, ich hätte nicht fortgekonnt, denn es kamen schwere Tage und Nächte; Stunden, in denen der Kranke die furchtbarsten Schmerzen litt, in denen ihm das klare Bewußtsein geschwunden schien und er den Namen „Lotte“ unzählige Male aussprach, und die Hände mir zitterten, welche frische kühle Tücher auf seine Stirn legten.

„Es ist nicht allein die Wunde,“ sagte der Doktor, „es sind auch die Folgen der Aufregungen und Strapazen; hier wirkt vieles zusammen.“

Während der nächsten Tage sah ich Lotte nicht; ich wußte nur, daß sie noch nicht nach Berlin abgereist sei, und daß sie nach wie vor spazieren fahre. –

Dann erschien der dreißigste Oktober, ein echter Herbsttag. Der Sturm fegte welke Blätter im Wirbel gegen die Fenster, und dann und wann kam eine Regenhusche, wie im April. In den Zimmern war zum ersten Male eingeheizt, und die Flammen spielten lustig in den weißen Porcellanöfen, als freuten sie sich der wiedererlangten Gunst bei den Menschen. Trotz aller finstern Wolken draußen war hier innen Sonnenschein eingekehrt, denn der Kranke befand sich, nach seiner eigenen Aussage, zum ersten Male wieder menschlich und wollte aus der Zeitung vorgelesen haben.

Mutterchen, Du kannst das nicht, es strengt Augen und Stimme an, – wenn aber Fräulein Tone –“ er wendete den Kopf zu mir und sah mich an. „Ich quäle Sie recht, nicht wahr?“ Er hielt mir die gesunde Hand entgegen und drückte die meine herzlich. „Ich muß doch wissen, ob wir schon vor Paris stehen?“

Eilig lief ich in das Wohnzimmer, um Zeitung und Lampe zu holen, und ertappte mich dabei, daß ich leise vor mich hin sang. Einen Moment war ich selbst erschreckt, dann fiel mein Blick durch das Fenster auf das Schloß, und ich dachte daran, daß ich eigentlich heute Lotte besuchen wollte. Vielleicht nach Tische; ich konnte ja ruhig fortgehen. Die bittenden Blicke sollten heute einmal keine Gewalt über mich haben, nahm ich mir vor; die Augen, die mir immer folgten, wenn ich durch das Krankenzimmer schritt, die so enttäuscht aussehen konnten, wenn ich hinausging.

„Ja, ja, Fräulein von Werthern,“ sagte neulich der Doktor, „Kranke sind Tyrannen; sie gönnen dem, der sie pflegt, nicht Ruh noch Rast; förmlich eifersüchtig sind sie. Das muß man in Geduld ertragen, es ist die pure Langeweile.“

„Aber Doktor!“ hatte Fritz Roden sich vertheidigt, „Dankbarkeit ist es, und –“

„Schöne Dankbarkeit! Adieu, Fritz.“

Ich nahm die Zeitung und schritt durch den Flur. Das ganze Haus duftete nach Obst; die Kellerthür stand offen, und die Mägde schleppten Tragekörbe voll der köstlichsten Winteräpfel hinunter

Da riß Jemand ungestüm die Hausthüre auf, daß der Klang der Schelle dröhnend an den Wänden entlang fuhr – Anita stürzte herein, blaß und verstört.

„Ist sie hier?“ rief sie.

„Wer? Meine Schwester?“

„Die Gräfin! Ich habe sie hinüber laufen sehen.“

„Nein!“ sagte ich erschreckt.

„Dann ist sie im Garten oder in der alten Wohnung.“ Und fort eilte das Mädchen.

Ich warf die Zeitung auf eine Bank und eilte in den Sturm hinaus, hinter Anita her. An der weit offenen Gartenthür holte ich sie ein.

„Anita, um Gotteswillen, was ist’s?“ stieß ich hervor.

„Sie muß schlechte Nachrichten bekommen haben, sie war wie eine Verzweifelte, ich traue ihr Alles zu. – Fräulein, dort hinten fließt die Rote!“

Wie ein Pfeil flog ich vorwärts. „Lotte!“ rief ich. „Lotte!“ Aber das Rauschen des Windes in den Bäumen übertönte meine Stimme. – „Ein Sprung von der Brücke,“ klang es mir in die Ohren. „Lotte, nur das nicht, nur das nicht!“

Und ich tastete mich den kleinen Abhang hinunter und stand dann auf dem Wege, neben welchem das stille tiefe Flüßchen dahin zieht.

„Lotte! Lotte!“ Ich weiß nicht mehr, wie rasch ich dahin stürzte und wie ich endlich erschöpft in die Kniee sank neben der schlanken Gestalt, die hart am Rande des Wassers, so dicht, daß ihr Fuß darüber zu schweben schien, die Arme um den Stamm einer Erle geschlungen hatte. „Lotte, was – was willst Du thun?“ schrie ich auf und richtete mich empor. Sie wandte das Haupt zu mir herum, und noch war es licht genug, um das.todtenblasse Antlitz zu erkennen und die Augen, in denen ein irres Feuer schimmerte.

„Ich? – Nichts! Es ist so schwer!“ murmelte sie und ließ sich von mir hinwegziehen auf festen Boden.

„Komm,“ sagte ich und leitete sie zu der Bank, die unfern am Wege stand, aber sie strebte vorüber, und ich schritt neben ihr durch die feuchten Wege des dunklen Gartens.

„Wo willst Du hin, Lotte?“

„Nach Hause.“ –

„Ach Lotte, Du gehst falsch.“

„Nicht ins Schloß will ich!“ Und sie stieß meinen Arm zurück.

„Nein, Lotte; komm mit in mein Zimmer, Du weißt, wo wir mit der Großmutter die erste Nacht schliefen. Dort drüben ist Alles kalt, und die Möbel sind verhangen. Komm!“

Folgsam wie ein Kind ging sie neben mir her. An der Gartenpforte erblickte ich Anita, die sich zurückzog, als sie uns sah, dann in einiger Entfernung hinter uns kam und den Weg zum Schlosse einschlug. Willenlos folgte mir Lotte in das Haus, das sie nie wieder betreten hatte, seitdem sie seinem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_212.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2020)