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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Unsere neueste Erwerbung ist ein Buch von Gustav Freytag: ‚Bilder aus der deutschen Vergangenheit.‘ Es waren schöne Abende, als wir es lasen. Seitdem habe ich unser altes Haus mit seinem hundertjährigen Geräth noch einmal so lieb und bin noch einmal so stolz darauf, eine Deutsche zu sein.“

„Dafür möchte ich Ihnen nun auch von Herzen die Hand drücken,“ sagte Georg in warmem Tone.

„Mein Gott,“ klagte Frau von Blachrieth plötzlich, indem sie stehen blieb, „die Anlagen sind doch recht beschränkt. Wir mögen einen Weg einschlagen, welchen wir wollen, immer mündet derselbe unter dem Lora-Flügel des Kurhauses.“

„St!“ machte Heino und lauschte.

Jetzt schallte ein mit großer Virtuosität gespielter Perlenregen herab, aus dessen wirbelnden und rollenden Tongebilden eine einförmige Melodie von unendlicher Sehnsucht mit starker Hand „herausgerissen“ wurde. Heino konnte keinen andren Ausdruck für diese leidenschaftliche Art des Vortrags finden.

„Leonore Paloty spielt,“ sagte Ravensburgk. „Diese Fertigkeit spricht allerdings für die Annahme, daß sie von böhmischen Musikanten abstammt.“

„Wie kommt diese fragwürdige Dame zu dem Lora-Lied, welches das Volk in unserem Thale singt?“ fragte Georg, während er mit Hedwig weiter ging.

„Der Herr Aufdermauer marschirt im Sturmschritt,“ bemerkte Ravensburgk mißmuthig.

Verstimmt hüllte Frau von Blachrieth sich in ihre Mantille und klagte:

„Ich darf mich aus Rücksicht auf meine Brunnenkur der Abendluft nicht aussetzen.“

Pardon, Mama,“ sagte Heino, „wenn dies das Lora-Lied ist, muß ich es zu Ende hören; das ist zu meinem Stoff nothwendig.“

Ravensburgk bot Frau von Blachrieth galant den Arm, und während Heino zurückblieb, geleitete er sie nach Hause, unverwandt das Monocle auf das junge Paar gerichtet, das er so „contre coeur“ chaperonniren mußte, während er die alte Dame „faute de mieux“ führte.

„Herr von Ravensburgk,“ klagte sie, „nicht wahr, Sie erinnern Heino daran, daß er zu rechter Zeit nach Hause geht? Es ist nicht kurgemäß, sich spät zur Ruhe zu begeben.“

„Gnädigste Frau,“ entgegnete Ravensburgk in entschiedenem Tone, „ich glaube, daß ihr Herr Sohn etwas ganz Anderes bedarf als eine sorgfältige Brunnenkur. Es ist dies eine richtige Erkenntniß des Lebens, und ich meine, daß er seinen Aufenthalt hier benutzen sollte, um einmal Welt und Menschen kennen zu lernen, statt Phantasiebildern nachzujagen.“

Frau von Blachrieth hob beleidigt das Haupt.

„Seine poetische Begabung scheidet ihn von der Prosa des Lebens und bewahrt ihn davor, mit dem Niedrigen in Berührung zu kommen,“ schloß sie mit dem spitzen Tone, der an das Summen der Biene erinnert, die gern stechen möchte.

Ravensburgk nahm keine Notiz von der Anzüglichkeit.

„Auch der dichterische Lorbeer wird nicht erträumt, sondern im heißen Kampfe errungen,“ entgegnete er. „Oder glauben Sie wirklich, daß eine Seele, die nur sich selbst bespiegelt, die keine Leidenschaft kennt, die vom Schmerz und Elend des Lebens nie berührt wurde, daß eine solche Seele Töne zu finden vermöchte, welche die Menschheit auf ihrem Passionswege über diese schöne Erde ergreifen, rühren, erheben können?“

Sie waren an der Wohnung angekommen. Ehe sie noch eine Erwiderung fand, zog er den Hut tief ab. Ihren empfindlichen Abschiedsgruß nahm er mit stoischer Ruhe hin. Sie wandte sich Hedwig zu, die mit holdem Lächeln dem Hauptmann Aufdermauer „Guten Abend“ wünschte.

In tiefer Verstimmung uahm Frau von Blachrieth in ihrem Salon Platz. Während sie, wie allabendlich, eine Fächerpatience legte, krittelte sie:

„Was fällt diesem Herrn von Ravensburgk ein, mir über die Erziehung meines Sohnes Rathschläge zu ertheilen, da er doch selbst nur als abschreckendes Beispiel dienen kann?“

Hedwig stand am Fenster.

„Da wendet sich der Herr Aufdermauer noch einmal um und grüßt herauf,“ sagte sie.

Ihre Tante wurde noch ärgerlicher.

„Ich wundere mich doch, Hedwig, daß Du so schnell vertraut wurdest mit diesem Herrn Aufdermauer. Der Scherz, den er sich mit uns erlaubt hat, war nicht sehr gewählt.“

Jetzt drehte sich Hedwig um.

„Du irrst Dich ein wenig im Ausdruck, liebe Tante,“ erwiderte sie sanft, aber bestimmt. „Er hat uns einen Dienst geleistet.“

Frau von Blachrieth wiegte unmuthig das Haupt.

„Er hat nichts Vornehmes, nichts Apartes; seine Sprache ist nicht gewählt.“

„Ich habe nur den Eindruck,“ widersprach Hedwig, gleichmäßig ruhig, „daß er vor Allem wahr reden und nichts sein will als ein ganzer Mann.“

„Sämmtliche Könige liegen voran, kein Aß ist heraus zu bekommen. Aus der Patience wird nichts.“ Aergerlich schob Frau von Blachrieth die Karten zusammen.




Trotz der Nähe seines Gutes war Georg über Nacht in Jungbrunnen geblieben. Er wolle sich die Morgenpromenade einmal ansehen, hatte er Heino gesagt.

An frühes Aufstehen gewöhnt, saß er schon frühstückend hinter den Myrten- und Granatbäumen, welche seinen Balkon überschatteten, als von dem Badeleben kaum die ersten Spuren sich zeigten. Ueber den Kurplatz zu seinen Füßen schritten nur Milchverkäuferinnen, Bäckerjungen mit Körben voll Brötchen auf den Köpfen, eilten Badewärter hin und her.

Georg meinte, es sei ihm lange nicht so wohl geworden wie heute. Daheim mußte er um diese Stunde dem Verwalter, der Haushälterin, dem Gärtner und Kutscher Rede stehen, welche Bericht erstatteten und seine Befehle einholten; hier konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen, die unaufhörlich die Ereignisse der letzten Tage an seinen Augen vorüber führten. Die kleine Romanscene, die er erlebt hatte, dünkte ihn viel unterhaltender als die Journalnovellen, welche er zu Hause nach dem Mittagsessen zu lesen und über die er regelmäßig einzuschlafen pflegte. Er spann bereits ein Plänchen aus, das dem romanhaften Anfang entsprach, und unternehmend ließ er seinen schwarzen Schnauzbart durch die kräftigen wohlgeformten Hände gleiten.

Da weckte ihn ein Klirren aus seinen Gedanken.

Ihm gegenüber an der Rückseite des Lora-Flügels wurde ein Fenster geöffnet. Eine schlanke Mädchengestalt, in einen von Spitzen überrieselten Negligémantel wie in eine duftige Wolke gehüllt, von aufgelöstem goldblonden Haar wie von einem Schleier umwallt, erschien in dem Rahmen. Das mußte die Paloty sein, über welche die Leute den Verstand verloren hatten! Nachlässig auf das sammetne Fensterkissen gestützt, hielt sie Umschau.

Da – plötzlich – hob sie wie em lauschendes Reh den zierlichen Kopf höher; ihr Blick heftete sich so gespannt auf eine Stelle des Kurplatzes, daß Georg demselben unwillkürlich folgte.

Aus der Brunnenhalle kam ein schlanker, ganz in Grau gekleideter Herr. Er mochte kaum die Mitte der vierziger Jahre überschritten haben; doch deuteten sein langsamer Gang und sein bleiches abgezehrtes Gesicht auf eine gebrochene Lebenskraft. Kein Blick von ihm richtete sich nach dem Fenster empor, obwohl die Dame sich weit herausbog.

Da verschwaud sie einen Augenblick von demselben, um im nächsten mit einem Spiel Karten in der Hand wieder zu erscheinen. Gedankenschnell ließ sie die Blätter durch ihre Finger gleiten und wählte eines derselben aus. Sie warf einen raschen Blick über die gegenüberliegenden Feuster und den Platz; und da der letztere leer war und die zugezogenen Behänge der Fenster so unschuldig aussahen wie die Myrtenbäume, die den Balkon verhüllten, ließ sie die Karte, die Georg’s scharfes Auge als das Coeur-Aß erkannte, vor die Füße des frühen Brunnengastes fallen.

Es schien Georg, als zucke der graue Herr ein wenig zusammen. Dann nahm er die Karte auf. Eine der Ecken war eingeknickt, wie man bei verfehlten Visiten zu thun pflegt.

Ein Lächeln ging wie ein heller Schein über sein blasses Gesicht. Aber ohne aufzusehen, schritt er schnell von dannen, obgleich die junge Dame ihm mit dem Blick folgte und erst, als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_262.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2021)