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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

heute; es kam mir vor, als sei ein ungewöhnliches Leben im Hause. Und ich lief durch alle Zimmer und spähte nach einer Bestätigung meines Argwohns – aber nichts zu sehen.

Es ist besser, ich rüste mich bei Zeiten, dachte ich und stieg die Treppen hinauf, wo ich auf einer Bodenkammer meinen Koffer wußte; ich wollte nachsehen, ob er in Ordnung, und ich fand ihn nicht. Sollte Lotte ihn mitgenommen haben? – Ach ja, Lotte! Und wieder griff ich nach dem Brief in der Tasche und, mich gewaltsam überwindend, setzte ich mich auf eine uralte Truhe mit bunten Blumen bemalt und las:

„Mir geht es außerordentlich gut; ich lebe wieder auf in den Genüssen der Großstadt; begreife mich selbst nicht, daß ich einen Moment daran dachte, in dem philisterhaften Rotenberg zu bleiben. Mein ci-devant Gemahl hat mir eine weit anständigere Rente ausgewirkt, als die sparsame Mama es beabsichtigte; Herr von Oerzen brachte mir diese Nachricht. Leider kann ich Dich nicht auffordern, mich zu besuchen, da ich gewissermaßen selbst Gast bin in dem Hause der Frau von Millern, wenn auch zahlender. Du würdest Dir nebenbei doch nichts aus dem Leben machen, wie wir es hier führen; Dein stiller Ackerhof und zwei gewisse blaue Augen ersetzen Dir wohl die Welt völlig –“

Ich las nicht weiter. Am liebsten hätte ich geweint vor Zorn, aber keine Thräne kam in meine Augen. Todtenstill war es unter dem uralten Hausrath; ein schräger Sonnenstrahl fiel durch das Dachfenster und Millionen Sonnenstäubchen tanzten darin; drüben saß eine Spinne unbeweglich im Netz, das sie zwischen zwei alten Schränken ausgebreitet hatte, und lauerte auf Beute. Ich sehe das Alles noch so deutlich vor mir, und ich höre noch so deutlich das dumpfe Rollen unten auf der Straße, den fröhlichen Peitschenknall und die Männerstimme, die mir das Herz stillstehen ließ vor Schreck und Scham. – Er war gekommen!

Gedämpft scholl Rufen und Sprechen zu mir herauf, Thürenschlagen und Schritte auf der unteren Treppe und im Vorsaal, und endlich sein Ruf: „Tone! Tone!“

Ich rührte mich nicht; wie ein Blitz schoß es mir durch den Kopf: hier sucht dich Niemand, und heute Abend kannst du unbemerkt fort. – Wie? und wohin? Daran dachte ich nicht, nur daß ich ihm nicht gegenüber zu stehen brauche, das arme Närrchen, „Die Andere!“

Ich hörte sie suchen und suchen; es that mir wohl, so ruhig hier zu sitzen, und doch schlug mir das Herz wunderlich bang –. Nun schollen die Stimmen vom Hof und Garten herein, ängstlich, aufgeregt, und plötzlich stand ich auf den Füßen. Dort unten war sein überlauter Ruf erklungen:

„Jürgen, die Braunen vor den Jagdwagen, sofort!“

Ich stand noch immer und schämte mich. War es nicht ein Kinderstreich, mich zu verbergen? Durfte ich ihm zeigen, daß ich ein Wiedersehen fürchtete? Wo war mein Stolz geblieben! Und ich ging die Treppen hinunter, als hätte ich Blei in den Füßen, und mit dem Gefühl einer grenzenlosen Schwäche.

Im Hausflur war es jetzt still, aber vom Hofe scholl das Trappeln der Pferde, die vor den Wagen gelegt wurden. Mit zitternden Händen öffnete ich Frau Roden’s Stube und trat ein. Nebenan im Wohnzimmer hastig auf und abgehende Tritte und die beschwichtigende Stimme der alten Dame:

„Fritz, sei doch ruhig; Du wirst sie ja auf der Station noch finden.“

„Das gebe Gott!“ sagte er bitter; „ich weiß nicht, was werden soll, wenn sie nicht wiederkehrt.“

„Aber Fritz –“

„Mutter,“ klang es da in höchster Bewegung, „ich kann mir das Haus nicht mehr vorstellen ohne das Mädchen, ich kann nicht leben ohne sie! Du hast mich sicher gemacht, Du hast gesagt, sie liebte mich, und hast nicht einmal verstanden, sie fest zu halten! Warum bin ich fort gegangen ohne ihr Wort – ich – –!“

Die alte Frau blieb still nach ihrer gewohnten klugen Weise; sie kam leise herüber geschritten und öffnete die Thür, und nun stand sie vor mir, überrascht, vorwurfsvoll, aber ohne einen Laut. Dann nahm sie meine schlaff herabhängende Hand, drückte sie und flüsterte:

„Ich will ihn her schicken.“

Sie wandte sich, aber da fiel ich ihr in erstickender Angst um den Hals:

„Nein, nein! Ich ertrüge es nicht, wenn ich mich täuschte, er doch nur, um sich zu rächen –“

Nebenan schlug jetzt die Thür, er war hinaus gegangen.

Die alte Frau löste eilig meine beiden Hände von ihrem Hals.

„Eben fährt er fort, in Angst und Verzweiflung,“ sagte sie ernst und deutete hinaus; „meinen Sie, daß Berechnung oder Rache so aussieht? Gehen Sie ans Fenster, Tone, lassen Sie ihn nicht fahren! Und wenn er nachher vor Ihnen steht und Sie sehen seine verweinten Augen, dann bitten Sie ab, daß Sie den ehrlichsten Menschen für einen Heuchler gehalten haben!“

Sie öffnete die Thür, und willenlos folgte ich an das Fenster der Wohnstube, das nach dem Hofe hinaus schaut. Eben nahm er die Zügel dem Kutscher ab, da klopfte energisch ihr Finger an die Scheiben. Ich sah ihn nicht vom Bocke herunter springen, denn ich hatte nicht das Herz, die Augen aufzuschlagen, ich hörte nur seinen jubelnden Ausruf; ich weiß nur noch, daß er durch den Hausflur stürmte, daß die Thür aufflog und ich im nächsten Augenblick an seiner Brust lag. Wo waren Zweifel, Sorge, Noth? Wie Eis und Schnee vergangen, und über mir der Frühling, der Sonnenschein meines Lebens, zwei ernste blaue Augen in Thränen schimmernd.

„Tone, Du liebes freundliches Geschöpf, sage Ja!“ sprach er.

„Du hast mich lieb, mich, die Andere?“

„Nein! nicht die ‚Andere‘ – die Eine, die Echte und Rechte! Du mußtest es wissen, Tone; längst, längst!“

„Ach, ich dachte, Du könntest Lotte nicht vergessen.“

„Lotte? Tone, würde ich sie gebeten haben in meinem Hause zu bleiben, wenn ich nicht völlig gefeit war gegen ihre Macht durch die Neigung zu Dir? Wie gern hätte ich es Dir schon gestanden, daß Du mir theuer bist, aber ich fürchtete, ich ertrüge ein ‚Nein‘ nicht in jenen Krankheitstagen. Und da wollte ich es Dir heimlich kundthun und strich eine kleine Stelle im „Ekkehard“ an, weil ich gar wohl merkte, Ihr hattet Angst um mich wegen der schönen Frau da oben. Aber Du wolltest es nicht verstehen; wie kannst Du stolz sein, Tone!“

„Wie heißt die Stelle?“ fragte ich.

„Selig der Mann, der überwunden hat,“ sprach er. „Ich aber sage heute: ‚Und dreimal selig der Mann, der gefunden hat!‘“

Und da erzählte ich ihm von den Worten, die Lotte gesagt, und die ich zufällig gehort: „Aus Rache!“ –

Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Hättest Du ein wenig länger gelauscht, so wäre Dir und mir Vieles erspart geblieben, denn dann hättest Du meine Antwort gehört.“

„Und?“ flüsterte ich.

„‚Aus Rache? Nein, Frau Gräfin. Rache ist der Ausbruch eines todtwunden Herzens, und meines ist gesund schon lange, lange! Und das Heilmittel waren ein Paar stille sanfte Augen und ein liebes, liebes Mädchenantlitz.‘ – – Willst Du noch fort?“ fragte er und ließ mich los, indem er mich übermüthig ansah wie Einer, der seiner Sache gewiß ist.

„Ach Fritz, ich wäre ja mein Lebtag unglücklich gewesen!“ flüsterte ich.

Da nahm er mich bei der Hand und führte mich zu seiner Mutter.

„Meine lieben Kinder!“ sprach sie fröhlich.




Horch, es läutet! Jubelnd schwingen sich die Klänge hinaus über das blühende Frühlingsland, und allerwärts tönt ihnen gleiche Freudenkunde entgegen, selbst das kleinste Dorfkirchlein erhebt seine Stimme. Zu einem großen Lobgesang schwillt der Chorus an, über Berg und Thal hallt es. Friede! Friede unserem Deutschland, dem einigen! Gott segne unseren Kaiser, der heute einzieht in Berlin. Wie die Fahnen flattern im lauen Sommerwinde, wie die Menschen alle so fröhlich aussehen, wie selbst das Häuschen der Armuth im Schmuck grüner Kränze prangt!

Am 10. Mai war der Friede zu Frankfurt geschlossen und heute, am Abend des 16. Juni gab Rotenberg seinen siegreich heimgekehrten Söhnen ein Bankett auf dem Rathhaussaal. Fritz konnte nicht mit Theil nehmen, der hatte mich am Nachmittage in die Kirche vor den Altar geführt, und der alte Superintendent hatte gesprochen: das sei der rechte Hochzeitstag, das Friedensfest; und Friede möge in unserem Hause wohnen immerdar, Friede von heut’ an zwischen uns, bis der Tod uns scheidet!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_267.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2021)