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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

nach über das, was er gesagt. Es schien mir Alles sehr treffend; nur hielt ich es nicht für unmöglich, daß, wenn jener Schriftsteller die hohen Herrschaften falsch geschildert habe, trotzdem er sie kennen gelernt, der absolute Werth der Autopsie doch wohl fraglich sei, und es noch auf etwas Anderes ankommen müsse, das auch ohne Autopsie seine Geltung habe. Aber der Gedanke war mir im Momente nicht so klar, daß ich ihn auszusprechen gewagt hätte; überdies hatte der hohe Herr seine Rede wieder aufgenommen:

„Das ist denn freilich so recht deutsch,“ sagte er, „der rechte deutsche Ur- und Grundfehler. Sie glauben Alles aus der Theorie heraus schaffen, Alles aus der Tiefe des Gemüthes, wie Hegel sagt – (Heine, verbesserte ich im Stillen) – konstruiren zu können: Dramen, Romane, Verfassungen, Revolutionen – Alles! Und das ist der Grund, warum sie in Allem hinter den praktischen Nationen zurückstehen; warum die Franzosen ihre Bühne beherrschen, die englischen Blaustrümpfe ihren Büchermarkt; warum die Verfassungen, die sie aushecken, regelmäßig Stückwerk sind, und ihre Revolutionen ebenso regelmäßig mißglücken. Nehmen wir die Bauernkriege! Unser deutscher Bauer des Anfangs des sechzehnten Jahrhunderts war schon ein konfuser Theoretiker und glaubte wunder wie revolutionär zu sein, während er im Grunde nichts als die bare Reaktion trieb. Lassalle – übrigens auch sonst ein profunder Kopf, dessen leider sehr zerstreute Schriften ich Ihrem Studium dringend empfehle – hat es aufs Schlagendste nachgewiesen. Ich selbst hatte übrigens dieselben Ideen lange vor ihm gehabt und sie wiederholt meinen politischen Freunden mitgetheilt; es ist mehr als möglich, daß Lassalle sie von einem derselben gelegentlich gehört und eben nur verarbeitet hat. Ich bin ihm deßhalb nicht bös gewesen – im Gegentheil. Ich muß den Leuten sogar dankbar sein, die meine Ideen auf diese Weise popularisiren – ich kann mich zu Allem nicht auch noch auf den politischen Autor hinausspielen wollen. Findet man doch ohnedies schon, daß ich zu vielgeschäftig bin. Jawohl! Bei den Deutschen ist man immer zu vielgeschäftig, wenn man nicht, wie die Menge, die Hände in den Schoß legt und den lieben Gott einen guten Mann sein läßt. Nur daß der liebe Gott dann, so zu sagen, auch die Hände in den Schoß legt und den Menschen die Verantwortung für ihr Thun und Lassen zurückschiebt; den Deutschen also für ihr Lassen – für ihr laissez aller! und das faire dann in die Hände von Leuten kommt, die es derartig besorgen, daß man sich über das Alles nicht wundern - sich nur wundern kann, daß es nicht noch schlechter, noch miserabler geht. Ich will keine Namen nennen; aber wenn ich denke, daß ein gewisser Jemand berufen sein soll, was die Nation seit Jahrhunderten erstrebte, für sich allein durchzuführen, die Früchte tausendköpfiger Arbeit für sich allein einzuheimsen, bloß, weil die Nation nicht aus ihrem Schlendrian zu bringen war und achtundvierzig die rechte Zeit versäumte, wie sie sie noch immer versäumt hat - ah!“

Die neue Cigarre war längst ausgegangen und wurde abgestraft wie die erste. Dabei waren dem Leidenschaftlichen die Adern auf der breiten Stirn angeschwollen, die starke Unterlippe war wie in zorniger Verachtung weit vorgeschoben, die mächtigen Hände, die sich jetzt mit einer dritten Cigarre beschäftigten, bebten, und ich dachte schaudernd gewisser Sonette, die in den letzten Tagen meines Schullebens eine so verhängnißvolle Rolle spielten. Indessen hatte ich die beruhigende Empfindung, daß der hohe Herr (was ich auch sehr begreiflich fand) nicht sowohl für mich spreche, sondern, um zu sprechen, um sich Luft zu machen, und meine Zuhörerschaft eigentlich rein zufällig sei. Darüber aber sollte ich sofort eines Anderen belehrt werden.

„Sie denken natürlich über den gewissen Jemand, den ich nicht nennen will, sehr verschieden von mir,“ sagte er plötzlich, die harten blauen Augen zum ersten Male seit längerer Zeit wieder fest auf mich richtend.

Mir fing das Herz an zu schlagen. Sollte dies der Anfang eines Examens über meine politischen Ueberzeugungen sein? und wie würde ich in demselben vor dem hohen Herrn bestehen, der vielleicht dafür hielt, daß, was sich für einen Herzog wohl schicke, für einen Gelbschnabel, wie ich, höchst unschicklich sei? Nun, wie es werden mochte: ich war entschlossen, die Wahrheit zu sagen, und so räumte ich denn vor der Hand ehrlich ein, daß ich eine allerdings nur kurze Zeit lang für den gewissen Jemand geschwärmt habe, und daß, obgleich meine politischen Ueberzeugungen, wenn ich von denselben sprechen dürfe, nach einer ganz anderen Richtung gingen, ich doch die Genialität des Mannes und seine ungeheuren Verdienste um unser Volk willig anerkenne.

„Sie sagen mir da nichts Neues,“ erwiderte der Herzog. „Man hört das jetzt ja aller Orten, zumal von Euch jungen Leuten. Nun, wenn ich das Glück hätte, noch jung zu sein - man kann nicht jedes Glück zugleich haben: das der Jugend und der Einsicht, welche eben nur die Jahre und die Erfahrung bringen, wenn die Einsicht anders ein Glück ist und nicht vielmehr Schiller Recht hat, der das Wissen den Tod nennt. Ach, wie oft habe ich den Tod im Herzen gehabt in jenem Jahre des Sublime au Ridicule, des Heils und Unheils, der Weisheit und des Blödsinns - dem Jahre achtzehnhundertachtundvierzig! Und noch jetzt raubt mir das Gedenken daran den Schlaf der Nacht und tritt zu mir, trauervoll und vorwurfsvoll, mitten in den Geschäften des Tages. Gedenken zu müssen, daß des Volkes sehnlichstes Verlangen hätte gestillt werden können - schon damals, und in unendlich reicherem Maße als heut zu Tage! Daß die deutsche Macht und Herrlichkeit, des Vaterlandes Größe und Glück, wie es an der Wand der Paulskirche zu lesen war, reif stand wie ein wogendes Aehrenfeld, welches nur des Schnitters harrt, des starken Mannes, der auch die Garben gebunden und in der sicheren Scheuer geborgen hätte, dort die goldenen Körner zu gewinnen zur sättigenden Speise für die Gegenwart und fröhlichen Aussaat für die kommenden Zeiten! Und dieser Mann vorhanden war, man seine Hand nur zu ergreifen brauchte, die er den Suchenden weit entgegenstreckte! Und sie ihn doch nicht fanden, an ihm vorbeigingen, das Scepter drücken wollten in die schlaffe Hand Eines, der keines verstand von den Zeichen seiner Zeit, des romantischen Träumers! - Und nun selbst so weiter geträumt haben, bis Einer kam, der - nun ja: der allerdings kein Träumer ist! Das will ich ihm zugeben, aber auch weiter nichts; am wenigsten Genialität, die ihm alle Welt beimißt, auch Sie zu meiner Verwunderung, der Sie doch ein Künstler sind. Vielleicht sollte man von Genialität nur bei Künstlern sprechen; jedenfalls nicht bei Einem, der so wenig universell ist, daß er von Kunst auch nicht die leiseste Ahnung hat. Damit allein wäre er in meinen Augen schon gerichtet, auch wenn ich nicht tausend andere Gründe hätte. Der Regenerator des Volkes der Denker und der Dichter – ein Perikles müßte das sein; nun und nimmermehr ein amusischer Mensch. Genialität! So nenne man mir doch nur eine einzige Idee, von der man sagen könnte, sie sei aus dieses Menschen Kopf entsprungen! Wer hat denn die deutsche Einheit nicht gewollt? Stand auf dem Programm der Kleindeutschen nicht der Ausschluß Oesterreichs aus Deutschland? Auf dem des Nationalvereines die Hegemonie Preußens? Hat er nicht seine Ideen eine nach der anderen zusammengetragen von Justus Möser bis auf Lassalle? Von dem nicht zum wenigsten, beim Himmel! Die ganze Theorie von Blut und Eisen, die ganze Lehre von den sogenannten Rechtsfragen, die im Grunde Machtfragen sind - Alles, Alles können Sie bei Lassalle lesen in schönster, klarster, überzeugendster Auseinandersetzung. Ueberhaupt starb ihm der Mann sehr gelegen, der hätte ihm noch böse Nüsse zu knacken gegeben. Der genirte sich auch nicht und nahm die Mittel zu seinen Zwecken, woher er sie kriegen konnte. Und seine Zwecke waren die größten, die sich denken lassen, und die Jeder gelten lassen muß, er sei denn von dem Geiste seiner – unserer Zeit gänzlich verlassen: die Emancipation, die Vermenschlichung des vierten Standes, die Uebersetzung der papierenen Menschenrechte von 1789 in die Wirklichkeit des neunzehnten Jahrhunderts - mit einem Worte: die Zwecke und Ziele der Socialdemokratie, die ein Popanz ist, Kinder damit zu schrecken, wenn man sie nicht versteht, und die Heilslehre für alle Schäden dieser kranken Zeit, wenn man sie versteht. Aber es ist halb zehn, und ich muß Sie wegschicken.“

Ich erschrak; die Wendung war so plötzlich, hatte mich so jäh aus der wogenden Fluth der Gedanken gerissen, die des Mannes Rede in mir entfesselt. Denn wahrlich, ich hatte völlig vergessen, daß es ein Fürst war, der da in überquellender Empfindung, in Worten, die mir mit Lavagluth getränkt schienen, nur daß sie dahinstürtzten wie ein brausender Wildbach, so gesprochen. Ob für sich oder mich, was lag mir daran? Und nun sollte ich wieder den Fürsten in ihm sehen, der für mich doch eben nur ein Mann war. Vom Wirbel bis zur Sohle, jeder Zoll ein Mann,

wie er da vor mir, der ich mich mit ihm erhoben, stand in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_286.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2024)