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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ihnen auf dem Rückweg wieder zu begegnen, wenn Sie nicht der Verein gegen Thierquälerei abgefangen hat.“

Endlich sprengte Leonore auf einem prächtigen Schimmel heran, von einem Reitknecht gefolgt.

In einem leichten offenen Wagen langte Frau Paloty an. Ihr zur Seite saß Frau von Giera, welche, die Lorgnette vor den Augen, mit mißbilligendem Blick die kecke Reiterin musterte.

Wie beim Erscheinen einer Fürstin gab Heino sofort das Zeichen zum Aufbruch. Trappelnd und klingelnd bewegte sich der Zug über die zierliche Kettenbrücke, welche den Fluß überspannt, und bog in das Waldthal ein, das durch die Laubhallen des Hainberges sich nach Himmelgarten windet.

„Wie weit sind Sie mit Ihrer Dichtung?“ fragte Leonore Heino, der neben ihr ritt. „Die Gesellschaft spricht von nichts weiter als von Ihrem neuesten Werk, und ich, als eine Ihrer wärmsten Verehrerinnen, habe wohl ein kleines Recht, in Gedanken und Plan desselben eingeweiht zu werden.“

Heino’s Augen hingen mit schwärmerischer Bewunderung an ihr. „Die schöne Lora verleugnet das Element nicht, dem sie entstiegen ist. Wie die Welle wandelt sich ihre Erscheinung. Jetzt sehe ich sie auf milchweißem Roß durch den Wald reiten. Ihr lang hinabwallendes Sammetkleid zeigt nicht den nassen Saum, der die Nixe sonst verräth. Nur ein Wassertropfen ist ihr am Geschmeide hängen geblieben.“ Er deutete auf eine große Perle, die mit goldenem Trinkhörnchen und rubinenbesetztem Hufeisen an ihrer Uhrkette hing. „Aber,“ fuhr er fort, „so reizend sie in jeder Verwandlung ist, erschwert sie mir gerade dadurch meine Dichtung immer von Neuem. Wenn ich eben glaube, sie in ihrer wahren Gestalt gesehen zu haben, so schwebt sie wieder als eine ganz Andere an mir vorüber, und die kaum begonnene Skizze bleibt unvollendet, weil sie ihr nicht mehr gleicht.“ Er seufzte tief auf.

„Bereuen Sie Ihre Wahl?“ fragte Leonore in weichem vorwurfsvollen Tone. „O, dann suchen Sie sich einen anderen Stoff und überlassen Sie die arme Nixe ihrem dunklen Los.“

„Wählen wir uns frei, was wir lieben, anbeten, besingen?“ fragte Heino. „Wir folgen einem geheimnißvollen Zuge, den wir nicht zu erklären vermögen. So muß ich die Lora-Nixensage dichten, ich mag wollen oder nicht, und kann nur sagen: Unheil, nimm deinen Lauf.“

„Ein sehr passender Segensspruch an dieser Stätte,“ lobte Ravensburgk, der dicht hinter dem Paare ritt. „Denn hier hinab geht es zum Höllenschlund.“ Er deutete nach einem engen tiefen Thalkessel hinunter, der in düsterem Schatten lag.

Sie waren am großen Scheidewege angelangt. Eine breite Chaussee führte der nächsten Eisenbahnstation zu; ein Waldpfad zweigte sich nach der Burg Falkeneck ab, deren hoher Bergfried über den Gipfeln der Bäume empor stieg; der Grenzstein der Gemeine Himmelgarten stand am Anfang einer sorgfältig gepflegten Straße, und ein wild überwachsener Weg schlängelte sich in den Höllenschlund hinab.

Wie graue Gespenster von Bäumen drängten sich unten fahle Weiden um ein matt glänzendes Wasserauge. Hohes Schilf starrte empor, und eine weiße Wasserrose schwamm auf dem unheimlich glatten Spiegel. Aus der Luft tönte der wilde Schrei eines Raubvogels, der über dem Grunde seine Kreise zog.

„Warum gab man der Schlucht den furchtbaren Namen?“ fragte Hetno, sein Pferd anhaltend, um sich das Bild einzuprägen.

„Drunten im Grund,“ erzählte Leonore mit gedämpfter Stimme, „hat der Ritter von Falkeneck die Entdeckung gemacht, daß seine Gemahlin ein Wasserweib war, und die Flehende verstoßen. Da ist sie in die Erde gesunken und an der Stelle der Weiher entstanden. Deßhalb wächst auch die Wasserrose dort, die noch heute der Volksmund eine verwandelte Frau nennt. Der Weiher steht wirklich in unterirdischem Zusammenhang mit der Lora. Gegenstände, die man hier in das Wasser geworfen hat, sind draußen im Fluß wieder zum Vorschein gekommen.“

„Eine andere Version lautet,“ warf Ravensburgk ein, „der Name schreibe sich daher, daß die Schlucht wegen der Nähe der Grenze öfters benutzt wird, um Duelle auszufechten, und an der Bank ruinirte Spieler gern den abgelegenen Winkel wählen, um ihrem Leben ein Ende zu machen.“

Ein Schauder schien plötzlich Leonoren zu schütteln. Sie riß wie mit unwillkürlicher Gebärde ihr Pferd zurück, daß es in die Zügel knirschte und schäumte.

Während sie das empfindliche Roß über die brüske Behandlung zu beruhigen suchte, tummelte sich eine Schar muthwilliger Reiterinnen auf ebenso muthwilligen Eselchen an Heino heran.

„Was giebt es zu sehen? Was wurde erzählt?“ Sie nahmen ihn in ihre Mitte, so sehr er sich auch gegen die Umzingelung sträuben mochte.

Als Leonore sich der Gesellschaft wieder zuwandte, bemerkte sie, daß diese am Scheideweg einen Zuwachs erhalten hatte.

Es war ein unscheinbares Einspännerchen, und in demselben saß ein kleines ältliches Frauenzimmer.

Sie trug ein schlichtes dunkles Wollenkleid; über den sehr verwachsenen Rücken fiel ein dünnes schwarzes Seidenmäntelchen herab; ein weit vorreichender Zughut rahmte ein stilles blasses Antlitz ein mit hoher schöner Stirn und klugen ruhigen Augen. Unbekümmert um die neugierigen Blicke, das verwunderte Lächeln der eleganten Gesellschaft hielt sie ihr altmodisches Sonnenschirmchen in den mit Halbhandschuhen bekleideten Händen und fuhr so gelassen zwischen den glänzenden Equipagen und Reitern mit, wie der blasse Neptun neben dem strahlenden Jupiter, der leuchtenden Venus in demselben Sonnensystem dahin zieht.

„Man merkt die Nähe von Himmelgarten,“ sprach Ravensburgk. „Da fährt schon die Weltverachtung neben uns her.“

Leonore hörte es kaum. Ihre Augen wanderten über die Maulbeerpflanzungen, die den Weg nach Himmelgarten umsäumten, wo eifrig Seidenraupenzucht betrieben wurde, über die sorgfältig bebauten Felder und Gärten mit den fleißigen Menschen, die nicht von ihrer Arbeit aufblickten.

Jetzt schallte der Hufschlag der Pferde laut auf dem Pflaster des Ortes. Aber keine neugierigen Gesichter zeigten sich an den Fenstern, die mit weißen Vorhängen sorgfältig geschlossen waren, keine müßigen Leute, keine schreienden Kinder waren in den Straßen zu sehen; Niemand schaute dem glänzenden Zuge nach. Für die Bewohner von Himmelgarten war ja Pracht und Schönheit – „Asche!“ Leonore flüsterte leise das Wort.

Auch am Gasthof war es still. Als einzige Zechbrüder summten nur die Bienen um die mächtige Linde, welche blendend weiße Gartenbänke und Tische überschattete.

Wie die unruhigen Wellen das Felsengestade nicht mit fortzureißen vermögen, wenn sie auch einmal über den hohen Uferrand hinüber lecken, so blieb die Ruhe von Himmelgarten ungestört, mit wie großem Lärm auch die Gäste davon Besitz ergriffen.

Die lebhaften Rufe nach Chokolade und Kaffee wurden von der Wirthin mit vollkommener Ruhe entgegen genommen. Die Dienstmädchen besorgten in der saubern Küche ihre sich häufenden Geschäfte emsig, aber ohne zu rennen und zu klappern. Es war, als sei das weiße Mützchen, das Alle trugen, ein Zauberkäppchen, welches die Gedanken zusammen halte.

Auch der weit und breit berühmte Bäcker verlor den Kopf nicht zwischen den Damen, welche seinen Laden stürmten. In weißer Schürze, mit den Manieren eines feinen Mannes wog er Einer nach der Anderen Anisbrot oder kandirte Früchte zu.

Die laute Schar, welche in das stille Schwesternhaus drängte, wurde höflich empfangen und nach Wunsch herumgeführt, ohne daß man eine Vergütung dafür nahm. Als die Gesellschaft dann in das Zimmer gelangte, wo Arbeiten des Schwesternhauses zum Verkauf niedergelegt waren, und die Fremden etwas davon zu erwerben wünschten, traten die Schwestern, welchen das Geschäft des Handels oblag, hinter die Tische, auf denen Seidenkisschen, mit Samenkörnchen gestickt, aus Tuch verfertigte Erdbeeren, durch die man rostige Nadeln zieht, lagen. Mit vornehmer Ruhe nannten sie ihre hohen Preise, antworteten Mister Montagu in geläufigem Englisch und Frau von Nihiloff in vorzüglichem Französisch. Auch einen Herrn mit pedantisch gezogenem blonden Backenbart redete eine Schwester englisch an; aber als dieser geschmeichelt in der breiten Aussprache, die in Mitteldeutschland zu Hause ist, eine englische Antwort radebrechte, erfolgte sofort in reinem Hochdeutsch die Erwiderung.

Heino ging unstät hin und her. Leonore war ihm aus den Augen gekommen, und was er sah, stieß ihn ab. Nirgends war ein poetisch verwildertes Plätzchen zu sehen.

In den Gärten dehnten sich lange Beete von Kohl und Gurken. Nicht einmal in den Wegen oder zwischen dem Pflaster durfte sich ein kleines Unkraut spreizen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_294.jpg&oldid=- (Version vom 8.2.2021)