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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Endlich drang das Rauschen eines Brunnens an sein Ohr. Das war wenigstens der Rhythmus des Wassers. Leider erschien auch der Steintrog sorgfältig vom Moos gesäubert. Mißmuthig setzte sich Heino auf das Wasserbänkchen unter der Silberpappel, zog sein Notizbuch heraus und begann leise zu skandiren.

Leonore war unterdessen neugierig in die stillen Straßen hinein geschritten.

Sie kam sich wie verzaubert vor. Selbst der Kanarienvogel, dessen blitzend blanker Käfig in einem Fenster stand, sang nur leise mit gedämpfter Stimme. Sie ertappte sich dabei, daß sie vorsichtig auftrat, um mit dem Klappen ihrer spitzen Absätze nicht die Ruhe zu stören.

Kräftig setzte sie nun die zierlichen Fuße auf, um den Bann zu brechen, der sie mit leisen Fäden umspann.

Aber schon hemmte sie wieder ihren Schritt.

Vor einem Haus mit vielen hellen Fenstern hielt das Einspännerchen. Die Reisegefährtin vom Scheidewege stieg aus. Junge Schwestern im Häubchen nahmen ihr das Gepäck ab. Wie gütig war das Lächeln in dem alten welken Gesicht! Dann schloß sich lautlos die Hausthür. Das freundliche Bild war verschwunden.

Wie im Traum ging Leonore weiter.

Ein größeres Gebäude, das ein Thürmchen schmückte, erhob sich am Ende der Straße. Eine weiß getünchte Gartenmauer schloß sich daran. Durch das eiserne Gitterthor schimmerten Blüthendolden. Es war der Eingang zum Friedhof der Brüdergemeine.

Die Pforte war nur angelehnt und that sich unter ihrer Hand geräuschlos auf. Sie schritt hinein. In langen Reihen schloß sich Grab an Grab, jedes ein blühendes duftendes Gartenbeet. Flache weiße Steine lagen auf den Ruhestätten. Das Wort „Heimgegangen“ leuchtete ihr von jedem entgegen.

Nur eine grüne lebendige Hecke trennte den nächsten Garten von dem Gottesacker. Die kleinen blauen Schmetterlinge flogen von dem Garten der Todten zu dem der Lebenden hinüber; der leise Wind trug die Düfte der hohen Lilien, die drüben auf den Rabatten blühten, herüber.

Dicht am Friedhof stand eine Laube, von Jelängerjelieber umrankt.

Leonore bog das Haupt mit dem von Straußfedern überwallten Hütchen durch die Ranken, um hinein zu schauen.

Tief in seine Lektüre versunken, saß drüben ein junger Mann. Sie erkannte ihn sofort wieder. Es war derselbe, der bei ihrer kecken Entschleierung in Jungbrunnen so ernst sie angeschaut und das unheimliche Wort „Asche“ ihr zugerufen hatte. Das waren die tiefen blauen Augen, die klare reine Stirn, der blasse feine Mund.

Da sah er auf. Ein Ausdruck von Ueberraschung spiegelte sich in seinen Zügen; er ließ die Hand mit dem kleinen schwarzen Buch sinken.

Leonore war zusammengeschreckt. Sie empfand es plötzlich als ungehörig, so an diesem ernsten Ort zu stehen, die Schleppe über den Arm geschlagen, in den hohen mit Quasten verzierten Stiefelchen, die so rücksichtslos das Epheugerank niedertraten, welches den Rasen des Friedhofes überspann, mit dem Stulphandschuh an der Hand, in der die Reitgerte sich bog.

Und doch blieb sie wie gebannt von dem Blick des jungen Mannes stehen und schaute ihn hilflos an. Ihre Weltgewandtheit hatte sie gänzlich im Stich gelassen.

Die Ueberraschung des Predigers war aber schon überwunden. Er stand auf und fragte mit ruhiger Stimme: „Haben Sie sich verirrt? Soll ich Sie auf den richtigen Weg weisen?“

„Ja,“ hauchte sie. „Nein,“ widersprach sie sich selbst im nächsten Augenblick, und aufrichtig fügte sie hinzu: „Ich war nur gespannt zu erfahren, wer sich so nahe dem Friedhof ein Ruheplätzchen für seine Mußestunden errichtet habe. Ich hätte mir sagen können: ‚Nur Der, welcher in Allem, was des Lebens sich freut, schon den Zerfall sieht, wenn dieser auch für keines andern Menschen Auge sichtbar ist.‘“

„Vielleicht sieht er auch das Ewige darin,“ erwiderte der Prediger mild, „wenn es auch ebenso noch für keines andern Menschen Auge sichtbar ist.“

Sie schaute ihn staunend an. „Sie glauben Gutes von mir? Ich dachte, Sie würden mich wegen des Uebermuthes, in dem Sie mich zuerst sahen, und wegen meines unberufenen Eindringens hier in Ihr friedliches Asyl verurtheilen.“

Ein stiller Blick sank auf sie herab. „Wie dürfte ein armes Menschenkind Andere richten, da es doch selbst kämpfen und ringen muß, um allezeit lauter und rein erfunden zu werden. Wir verurtheilen nicht, wir lieben nur, auch den strauchelnden Bruder, die irrende Schwester.“

Unwillkürlich wiederholte sie die Worte: „Bruder! Schwester! Heimgegangen. Wie verheißungsvoll klingt das. O, wie bewegt mich Alles so tief, was ich sehe und höre.“

Mit gelassener Zuversicht erwiderte der Prediger. „An jeden Menschen ergeht einmal der Ruf der Gnade.“

Feierliche Posaunenklänge, die in lang gezogenen Tönen einen Choral bliesen, schlossen sich den Worten an; sie schallten von dem thurmgeschmückten Bethaus herüber.

Leonore bebte sichtlich zusammen. „Was bedeutet die Musik?“ fragte sie leise.

„Die Posaunen rufen uns zu unsrem Gottesdienst,“ war die freundliche Antwort.

„Welches Fest feiern Sie heut am Werktage?“ forschte sie weiter.

„Wir feiern den Tag der Gründung von Himmelgarten,“ antwortete der Priester. „Heute vor hundert Jahren ließ der Freiherr von Falkeneck unter seinen Augen den Grenzstein der Flur setzen, welche er der Brüdergemeine schenkte.“

Ein jähes Roth flog über Leonoren’s Antlitz; dan wurde sie todtenblaß; ein paar Augenblicke lang stand sie wortlos.

Dann fragte sie zaghaft: „Darf man Ihrem Gottesdienst beiwohnen?“

„In das Haus des Herrn sind Alle geladen,“ erwiderte er.

„Aber,“ sprach sie stockend, „wird es nicht übel vermerkt, wenn ich in diesem Kleid das Bethaus betrete?“

Er lächelte leise. „Was ist das Kleid vor Gott? Er sieht mit gleicher Liebe auf die Indianerin im bunten Federschmuck wie auf die Nonne im härenen Gewand, wenn die Seele ihm aufrichtig ergeben ist.“

„O, ich danke Ihnen für die Erlaubniß; ich möchte heute so sehr gern der Feier beiwohnen,“ sprach sie in innigem Tone. „Aber nun sagen Sie mir auch, wie darf ich in Gedanken Sie nennen, wenn ich mich Ihrer Güte erinnere?“

„Bruder Johannes,“ erwiderte er.

„Und ich heiße Leonore –“ sie wollte noch einen Namen hinzufügen; aber sie stockte plötzlich. Es zuckte schmerzlich um ihre Lippen. Endlich sagte sie leise: „Wenn Sie meiner gedenken, dann nennen Sie mich Schwester Leonore.“ Ihre Augen standen voll Thränen, als sie sich zum Abschied verneigte und ging.

Als sie die Pforte wieder erreichte, fand sie die Straße von festlich gekleideten Männern und Frauen belebt, welche nach dem Gotteshaus wandelten. Auch mehrere neugierige Damen und Herren der Badegesellschaft befanden sich darunter. Leonore folgte ihnen.

Sie gelangte in einen großen hellen Saal mit weiß getünchten Wänden und weiten lichten Fenstern.

Kein Blick der Gemeine beachtete die Fremden, welchen auf Bänken am Eingang ihr Platz angewiesen wurde.

„Christi Schäflein sind sorgfältig sortirt,“ sagte Ravensburgk, mit den Augen die in verschiedene Chöre getheilte Gemeine überfliegend. „Da kann sich keine junge Wittwe für ein Mädchen ausgeben; die weiße Schleife verräth sie. Am besten gefallen mir die Frauen; die weißen gestickten Schürzen und Tücher auf den schwarzen Kleidern und die blau garnirten Häubchen machen einen recht häuslichen Eindruck,“ Er begab sich auf die Seite der Brüder.

Ein Orgelwerk von seltsam verschleiertem Klang summte an.

Vor der Gemeine, ein paar Stufen höher, saß an einem einfachen, mit einem grünen Tuch bedeckten Tisch der Prediger.

Leonoren’s Augen hingen an seinen blassen Zügen.

Jetzt verstummte die Orgel.

Bruder Johannes erhob sich. Seine ernste Stimme tönte über die Versammlung hin: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein.“

Es war die Losung der Brüdergemeine für den Tag, mit welcher er seine Rede einleitete.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_295.jpg&oldid=- (Version vom 8.2.2021)