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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 20.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Lora-Nixe.
Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Heino fühlte sich so gehoben, so befreit von aller Erdenlast, daß er meinte, es müsse ihm jetzt spielend leicht werden, seine Dichtung in raschem Wurfe von Anfang bis zu Ende zu führen. Glühend vor Freude und Schaffensdrang stürmte er nach seinem Zimmer.

Der Salon seiner Mutter öffnete sich. Sie schaute heraus und jammerte:

„Mein Gott, Du verkennst gänzlich die Vorschrift des Arztes, daß man bei einer Brunnenkur sich Motion machen soll. Wenn Du Dich so erhitzest bei dem Gebrauch der Heilquelle, kann Dich der Schlag rühren.“

Heino wandte verzweiflungsvoll die Augen gen Himmel und verschloß sich in sein Zimmer.

Auf einem Purpurkissen breitete er die Locke aus und griff abermals zur Schwanenfeder.

Aber es war, als beneble der zarte Duft von Heliotrop, der dem Geringel entströmte, ihm den Sinn.

Dann sah er immer wieder nach der Pendüle, ob er auch nicht die Stunde des Diners versäume. Als diese endlich schlug, war er nicht über die Reime: „Lora hold, Lockengold“, hinweg gekommen, obgleich rings um ihn zerrissene Papiere lagen.

Nun mußte er schnell Gesellschaftstoilette machen.

Eilig die paillegelben Handschuhe überstreifend, trat er bei seiner Mama ein. Diese war auch heute nicht in Dinertoilette, und im Salon war wie immer in letzter Zeit die Mittagstafel gedeckt.

„Willst Du wieder nicht mit zur Table d’hôte gehen?“ fragte er gereizt.

„Ich kann jetzt durchaus keine fremden Menschen sehen,“ erwiderte Frau von Blachrieth mit leidender Miene.

Heino war sichtlich peinlich berührt. Mit einiger Ueberwindung sagte er:

„Ich möchte Dir die Dame gern vorstellen, die mich zu meiner neuen Dichtung inspirirt.“

„Die lerne ich am besten aus Deinem neuen Werke kennen, mein lieber Sohn,“ entgegnete seine Mutter.

Er wollte noch etwas einwenden; aber sie schnitt ihm die Rede ab:

„Die Küche des Kurhauses ist nicht ganz der Diät angemessen. Du würdest besser thun, mit uns zu speisen. Soll ich noch ein Kouvert auflegen lassen?“

Sie faßte nach dem Klingelzug, und er nach dem Thürgriff.

„Pardon, Mama! Ich habe mich bereits verpflichtet, zu kommen.“

„Iß nichts Saures, liebes Kind,“ rief sie ihm nach, und er flog wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil nach dem Kurhaus.

Die ganze Table d’hôte befand sich in Aufregung über die Toilette, in welcher Leonore erschienen war: weiße Donna-Mariagaze


Auerbach’s Hof in Leipzig.0 Nach einer Radirung von E. Kiesling.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_345.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2023)