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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

die Gewohnheiten und Gepflogenheiten allmählich hinab in die Familien und die bürgerliche Gesellschaft.

Solche Processe spinnen sich nur langsam und allmählich ab, können aber auch durch besondere Ereignisse beschleunigt werden. Ich erwarte noch von irgend einem Berufenen eine Darstellung des Umschwunges, welchen das ganze Kulturleben Deutschlands in Folge des letzten französischen Krieges erlitten hat. Man hat unendlich viel in Frankreich gesehen, erfahren und erprobt; man hat besser wohnen, essen und schlafen gelernt, und wenn man nicht durch die Pedanterie der „Stilgemäßheit" die eroberten Resultate wieder in Frage stellte, so ließe sich über diese Errungenschaften manch' Schönes und Beherzigenswerthes sagen. Freilich geht selbst beim Sturmschritte nicht Alles mit einem Male; das bekannte „Berliner Zimmer" leistet ebenso hartnäckigen Widerstand, wie das täglich gebotene gesottene Rindfleisch, oder die furchtbare Foltermaschine mit meerestiefen Federwülsten, in der man sich noch immer in vielen Gegenden Deutschlands, sogar während des Sommers, allabendlich vergraben muß.

Trotz aller Ausgleichung werden aber stets Unterschiede fortbestehen, die wesentlich auf der Transportirungsfähigkeit der Nährstoffe im weitesten Sinne beruhen. Das Bessere schlägt zwar immer das Gute aus dem Felde, aber doch nur dann, wenn es überhaupt zum Schlagen kommen kann. Die Manövrirfähigkeit der Nährstoffe ist sehr verschieden. Die einen können nur langsam fort und bewegen sich nur über kleine Strecken, weil sie zu viel Ballast mit sich schleppen müssen. Die Kartoffel ist in diesem Falle; sie schleppt über 90 Procent werthloses Wasser mit sich. Andere Stoffe zersetzen sich, müssen unmittelbar in erster Frische verzehrt werden; wieder andere werden in zu geringer Menge producirt oder auch nur unter so schwer lastenden Bedingungen, daß sie kein Gemeingut werden können.

Zu den mannigfachen berechenbaren Bedingungen, die bei Annahme eines Nahrungsmittels mitspielen, kommen aber noch andere, welche durchaus unberechenbar sind, Launen, nicht von einzelnen Individuen, sondern von ganzen Völkerschaften, um so hartnäckiger festgehalten und um so tiefer eingewurzelt, je weniger vernünftige Gründe dafür angeführt werden können. Die Chinesen finden, daß ein gemästeter Hund ein ausgezeichneter Leckerbissen sei, während wir Tausende von Centnern dieses bei den Himmelssöhnen so geschätzten Nahrungsmittels verfaulen lassen. Die Semiten verabscheuen allesammt das Schweinefleisch, und Moses hat sein Verbot desselben nur diesem Abscheu entlehnt, der lange vor ihm bestand und wahrlich nicht durch die nachträgliche Entdeckung von Bandwurmfinnen und Trichinen sich erklären läßt. Sogenannte religiöse Gründe für solche althergebrachte Antipathien lassen sich zwar gewöhnlich finden; sie sind aber, bei genauerer Betrachtung, nur Mythen, welche um die Thatsache herumgesponnen wurden und gerade deßhalb nichts erklären, weil sie zum Zwecke der Erklärung ersonnen wurden.

Antipathien werden durch Sympathien ergänzt, und nirgends sonst finden wir solche ausgesprochene Launen, so ausgeprägte Vorliebe für gewisse Dinge, wie in dem Gebiete der Nahrungsmittel. Die meisten sogenannten Nationalgerichte gehören hierher; gewöhnlich sehr zweifelhafte, aus grauer Vorzeit stammende Zubereitungen, an die man sich von Jugend auf gewöhnt haben muß, für welche man in Folge dieser Gewöhnung sogar schwärmen und sich begeistern kann, während der mit diesen Jugenderinnerungen nicht vertraute Mensch, der nur auf seine Zunge und seinen Gaumen angewiesen ist, absolut unbegreiflich findet, wie man solches Zeug hinunterschlucken könne. Manche dieser kulinarischen Eigenthümlichkeiten tragen das Alterszeugniß auf der Stirn; man kann sicher sein, daß alle Speisen, zu deren Zusammensetzung Honig gehört, den Ursprung ihres Receptes wenigstens bis in das Mittelalter, wenn nicht gar in die Römerzeiten zurückdatiren können. Dem Gulasch der Ungarn ist das Ursprungszeugnis von den wilden Reiterscharen der Hunnen aufgedrückt, die ihr Fleisch unter dem Sattel mürbe ritten, statt es zu kochen oder zu braten.

Wie zu diesen historischen Ruinen verschwundener Civilisationsstufen, schüttelt der Unberufene auch zu einer Menge lokaler Nährstoffe den Kopf, kostet sie meist nur mit Unbehagen und gewöhnt sich nur mit Mühe daran, was nicht hindert, daß in einzelnen Fällen der anfängliche Abscheu in Leidenschaft umschlagen kann. In Beziehung auf Erzeugung solcher Genüsse ist das Meer unerschöpflich und dem Binnenlande weit überlegen. In früheren Zeiten war überhaupt nur ein schmaler Küstensaum den Erzeugnissen des Meeres zugänglich; die homerischen Helden und die handeltreibenden Phönicier durchschifften die Salzfluth nicht, um Fische, Hummern oder Austern zu holen. Bei den Gastmahlen dieser altgriechischen Insel- und Küstenbewohner, dieser viehhütenden Raubritter spielen die Erzeugnisse des Meeres oder des süßen Wassers gar keine Rolle. Man kennt Ichthyophagen, fischessende Völker, aber weder in dem Hause des Odysseus, noch in dem Palaste des Alkinoos, die doch unmittelbar am Strande wohnten, wurde jemals ein Fisch aufgetischt, geschweige denn im Binnenlande bei Menelaos. Man überließ wahrscheinlich solche gemeine Nahrung dem niedrigsten Volke, welches sie, wie heute noch der Neapolitaner, großentheils roh verzehrte. Wie für die in Norddeutschland gefangen gehaltenen Franzosen das schwarze Roggenbrot, so galt für die verschlagenen Gefährten von Odysseus und Menelaos die Fischnahrung als Beweis des tiefsten Elends, und daß sie auf den Inseln des Proteus und des Helios mit „gebogenen Angeln" in der Noth und „gequält vom hungrigen Magen" fischen mußten, gehört zum Entsetzlichsten, was sie erduldeten.

Man vergleiche nun mit diesen homerischen Zuständen die heutigen, wo ein leckerer Fisch auf keiner gut besetzten Tafel fehlen darf und ein nordischer Fisch, der Stockfisch, eines der Hauptelemente der Ernährung für die Bewohner der Mittelmeerländer abgiebt und wesentlich den Preis des Oels bestimmt — welcher Umschwung der Verhältnisse, tief eingreifend in jeder Beziehung! Die Erzeugnisse des heimathlichen Meeres, von den massenhaft vorkommenden Thunfischen und Makrelen an bis zu den selteneren Fischen, genügen dem Anwohner des Mittelmeeres nicht, um sein Nahrungsbedürfniß zu befriedigen; er tauscht sein Salz und sein Oel gegen den in der Nähe des Polarkreises gefangenen Stockfisch aus, der auf weitem Wege durch die Straße von Gibraltar ihm zugebracht wird.

Wie die Produkte des Meeres sich einerseits einen stets größeren Absatzmarkt in dem Binnenlande erobern, so bedingt auch die Beschaffung einzelner derselben andrerseits einen stets vergrößerten Jagdbezirk. Von der Küste aus wandert die Auster jetzt schon in weite Fernen, Dank der durch die Eisenbahnen beschleunigten Verführung und den verbesserten Konservirungsmethoden; aber wenn die Auster fast nur aus der unmittelbaren Nähe des Strandes bezogen werden kann, weil sie in größeren Tiefen nicht fortkommt, so erobert die Hochseefischerei stets neue Jagdgründe in vorher unzugänglichen Tiefen der Gewässer.

Der Binnenländer ist mit den Gestalten der Fische und Krebse schon hinlänglich vertraut, und er findet nichts Auffallendes in der Zumuthung, sie als Nährstoffe zu benutzen. Die Sache wird ihm schon etwas bedenklich, wenn die Formen der ihm angebotenen Fische von denjenigen der Süßwasserfische bedeutend abweichen. Vor dreißig Jahren noch würde eine schwäbische Köchin um keinen Preis einen Rochen oder Steinbutt eingekauft haben; der Hamburger, der ein solches Ungethüm sich wohlschmecken ließ, würde ihr wie ein halber Kannibale vorgekommen sein. Und nun gar all' das übrige Zeug, was in dem Meere sitzt, kriecht und schwimmt, von dessen Existenz der Binnenländer keine Ahnung, und vor dessen Verzehrung er einen instinktiven Abscheu hat! Aber über derlei Dinge läßt sich reden, und die Vorurtheile weichen vor dem Guten und Schönen, wenn auch nur langsam.

Unser Thema entbehrt sogar nicht ganz des Geheimnißvollen und Mystischen. Es ist geradezu unerklärlich, wenigstens bis jetzt, wie der Mensch auf eine Reihe von Nahrungsmitteln, besonders Genuß- und Reizmittel, verfiel, dieselben aus einer Menge ähnlicher Substanzen hervorzog und sich aneignete, während er Verwandtes bei Seite schob. Wie in aller Welt kam er auf den Paraguay-Thee, den Mate, jenen Absud der Blätter einer bestimmten Stechpalmenart, während er die übrigen Arten der Gattung nicht benutzte? Man kann nicht behaupten, daß er alle Sträucher Paraguays durchprobirte, um schließlich diese Theestaude zu adoptiren — und doch ist es eine Thatsache, daß nur sie einen trinkbaren Mate liefert!

Vielleicht bietet es einiges Interesse, von einzelnen Nahrungsstoffen zu sprechen, die gerade nicht zu dem Alltäglichen gehören, mehr oder minder aber doch in den täglichen Gebrauch vorzudringen und statt der lokalen Joppe den kosmopolitischen Frack anzulegen suchen.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_351.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2021)